Versäumnisse bei der Katastrophenmedizin : "In der Katastrophenmedizin ist fast nichts professionalisiert"
Ärzte und Pfleger müssen bei einem Massenanfall von Verletzten schnell und professionell Hilfe leisten. Notarzt Stefan Gromer erklärt, woran es derzeit hapert.
Herr Gromer, wie gut ist Deutschland aus medizinischer Sicht auf den Katastrophenfall vorbereitet?
Stefan Gromer: Wir sind nicht gut vorbereitet, das haben wir bei der Flut im Ahrtal gesehen. Da waren alle Beteiligten aus dem Bevölkerungsschutz zusammen, und es hat nicht funktioniert. Es wäre kostspielig, wenn man sich adäquat auf solche Szenarien vorbereiten wollte, daher wird das in der Politik nicht gerne gehört. In der Katastrophenmedizin hat kaum jemand wirklich Expertise. In dem Bereich ist bislang fast nichts professionalisiert. Auch einen Lehrstuhl für Katastrophenmedizin gibt es nicht. Da liegt etwas im Argen.
Woran liegt das?
Stefan Gromer: Die Fachdisziplinen in der Medizin werden mit Geld auch von Medizintechnikunternehmen und der Pharmaindustrie unterstützt, in der Katastrophenmedizin profitiert keine Firma unmittelbar, deswegen steht da keiner in der ersten Reihe, und das Geld bleibt am Ende aus. Der Staat fühlt sich nicht zuständig, weil offenbar davon ausgegangen wird, dass die ganz großen Naturkatastrophen an uns vorbeigehen.
Wie sieht es denn mit der Ausbildung aus?
Stefan Gromer: Was die Ausbildung angeht, ist Deutschland in der Katastrophenmedizin, also im Rettungsdienst und bei Notärzten, nicht wirklich vorne. Die Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin hat vor Jahren ein Curriculum entwickelt, das ist aber keine Pflichtveranstaltung in der Ausbildung von Medizinern. Rettungsdienste und Notfallsanitäter lernen gar nichts zum Thema Katastrophenmedizin, die Pflegeberufe auch nicht. Wenn nicht ausgebildet wird, kann es eben auch keiner und dann funktioniert es nicht. Das Curriculum muss in das Medizinstudium integriert werden, zudem brauchen wir Pflichtveranstaltungen im Rettungsdienst und große Übungen.
Katastrophen gelten eigentlich als nicht planbar. Wie gehen Sie mit dieser Ausgangslage um?
Stefan Gromer: Der Katastrophenschutz, die Feuerwehr und der Rettungsdienst sind im Föderalismus Ländersache. Aus unserer Sicht ist das ein Nachteil, wenn es darum geht, sich auf Großschadenslagen vorzubereiten, das ist eine Stufe vor der Katastrophe.
Wir haben das bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 gesehen. Das medizinische Konzept sollte eigentlich einheitlich sein, aber jedes Bundesland hatte seine eigenen Katastrophenschutzgesetze. Da ist es mitunter schwierig zusammenzuarbeiten. Das zeigt sich etwa bei der Kommunikation, wenn die digitalen Funkgeräte nicht für alle freigeschaltet sind und die Einsatzkräfte nicht miteinander sprechen und sich gegenseitig helfen können. Das sind banale, aber im Ernstfall dramatische Probleme.
Wie müssen wir uns einen medizinischen Einsatz vorstellen, wenn der Katastrophenfall ausgerufen wird?
Stefan Gromer: Es kommt auf die Art der Katastrophe an, die Szenarien unterscheiden sich ja erheblich, ob es einen flächendeckenden Stromausfall gibt, eine Flutkatastrophe oder einen Terrorangriff mit zahlreichen Verletzten. Daraus ergeben sich jeweils einsatzspezifische Möglichkeiten und Grenzen für die Mediziner.
Die Frage ist, wie viel Eigenschutz gibt es, kommen Ärzte überhaupt zum Ereignisort hin, wie viel Technik und Logistik ist nötig und wie sieht die Zusammenarbeit mit anderen Diensten aus. Aus Sicht der Medizin ist das Besondere an einer Katastrophenlage, dass es zu wenige Helfer, zu wenig Material und zu viele Patienten gibt. Im Übrigen können Ärzte erst dann aktiv werden, wenn die Lage wieder beherrschbar und sicher erscheint.
Bei vielen Verletzten sind Ärzte auch zur Triage gezwungen und müssen schnell entscheiden, welcher Patient in der Behandlung Vorrang hat.
Welche besonderen Anforderungen werden an die Katastrophenmediziner gestellt?
Stefan Gromer: Die Ärzte müssen sich quasi aufteilen können, sie müssen Dinge gleichzeitig tun, was sie ohne spezielle Ausbildung meist nicht können. In einer Katastrophenlage müssen Mediziner viele Verletzte gleichzeitig behandeln, es kann also nicht ein Patient optimal versorgt werden wie im normalen Praxisalltag. Aus der Individualmedizin wird dann eine Kollektivmedizin.
Bei zehn gleich stark verletzten Patienten ist die Herausforderung für den behandelnden Notarzt enorm, er muss allen Patienten etwa mit Schmerztherapie sofort helfen. Der Durchschnittsmediziner stürzt sich auf einen Patienten und behandelt den maximal gut, die anderen Patienten müssen warten. Im Katastrophenfall muss der Arzt seine Behandlungsstrategie um 180 Grad ändern.
Bei vielen Verletzten kommt es unweigerlich zur Triage. Wie gehen Ärzte damit um?
Stefan Gromer: Die Ärzte müssen Prioritäten setzen und gucken, wer hat die größte Überlebenschance und kann auch unter den Mangelbedingungen noch gut versorgt werden. Bei der Triage spielen moralische, ethische und juristische Überlegungen eine Rolle, aber der Arzt muss letztlich entscheiden. Wir haben zusammen mit anderen Akteuren einen Ethik-Leitfaden Katastrophenmedizin entwickelt und geben den Kollegen im Sanitätsdienst, Rettungsdienst und den Ärzten im Katastrophenfall damit eine Hilfestellung. Die Ärzte gehen bei der Triage immer nach medizinischen Kriterien vor, nicht nach juristischen.
Wie bereiten sich Krankenhäuser auf einen möglichen Notstand vor?
Stefan Gromer: Die Kliniklandschaft in Deutschland ist inzwischen stark privatisiert, und Privatkliniken lassen sich nicht einfach so einbinden in den Katastrophenschutz. Früher wurden viele Betten vorgehalten, da hatten Krankenhäuser vielleicht 60 Prozent Auslastung und 40 Prozent Betten in Reserve. Zusammen mit einem Medikamentenvorrat bleiben Kliniken so im Ernstfall handlungsfähig, ohne dass es kritisch wird. Das ist ein Teil der Daseinsvorsorge.
Wenn Krankenhäuser aber 95 Prozent Auslastung anstreben, weil sie hocheffizient arbeiten wollen, gibt es keine Bettenreserve, sie haben dann keine Aufnahmekapazitäten. Das haben wir in den vergangenen 25 Jahren falsch gemacht. Hinzu kommen die teils prekären Arbeitsbedingungen für Ärzte, Krankenschwestern und Pflegekräfte in Kliniken. Ausgerechnet dort, wo Leistung abgerufen wird, in Kliniken, beim Rettungsdienst und im Katastrophenschutz, da wird schlecht bezahlt. Die Klinikmitarbeiter sind für den Katastrophenfall nicht ausgebildet und schon mit ihrer normalen Arbeitsroutine überlastet. Daher haben wir enorme Abgänge von Fachpersonal aus Kliniken, die sind nicht leicht zu ersetzen.
Wir haben auch in der Corona-Pandemie ganz viele organisatorische Fehler gemacht, obwohl offenbar war, wo die Lücken und Probleme sind. Zu Beginn der Pandemie gab es ja noch nicht einmal ausreichend viele Schutzmasken.
Mit der Erstversorgung ist es nicht getan. Viele Patienten werden im Katastrophenfall psychisch schwer belastet, welche Konzepte gibt es für die Behandlung dieser Patienten?
Stefan Gromer: Es gibt dazu ausreichend Know-how, das müsste nur geschult werden. Die psychisch-soziale Notfallversorgung gehört in solchen Lagen dazu. Es gibt genug Konzepte, Ausbildungslinien weniger. Mit Blick auf die wenigen professionell ausgebildeten Fachkräfte sind wir eher ein Entwicklungsland.
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Würden Sie Bürgern empfehlen, sich gezielt auf einen möglichen Katastrophenfall vorzubereiten?
Stefan Gromer: Unbedingt. Wir plädieren für eine Bevölkerungsvorsorge. Teil des Bevölkerungsschutzes ist der Selbstschutz, für die ältere Generation war beispielsweise der Lebensmittelvorrat mit Kartoffeln, Konserven und Wasser noch selbstverständlich, um zumindest zehn Tage ohne Hilfe überstehen zu können. Das ist genauso sinnvoll wie eine Grundversorgung an medizinischen Hausmitteln. Allerdings macht es überhaupt keinen Sinn, Antibiotika auf Vorrat zu lagern.
Manche Experten sehen im Klimawandel eine heraufziehende Katastrophe. Wie schätzen Sie das ein?
Stefan Gromer: Bei der Klimaveränderung müssen wir mit Extremwetterlagen rechnen. Das wird auch die Gesundheit insbesondere älterer Menschen schwer belasten. Bei langen Hitzeperioden könnte es enorm viele Hitzetote geben. Wir haben aber beispielsweise in den Altenheimen derzeit keine effektive Klimatisierung, auch da gibt es enormen Nachholbedarf.