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Politikberatung : "Gegen die Kraft des Augenblicks"

In der Pandemie forderte Wolfgang Schroeder einen "echten Krisenstab" und Corona-Politik aus einer Hand. Der Politikberater über die Frage: Wie wirkt Expertise?

05.09.2022
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6 Min

Herr Professor Schroeder, Sie und zwei weitere Wissenschaftler haben 2021 dem Deutschen Bundestag empfohlen, eine Enquete-Kommission zu Lehren aus der Corona-Pandemie einzurichten. Zum Beginn des nun mutmaßlich dritten Pandemie-Herbstes: Haben Regierung und Parlament aus Ihrem Papier praktische Schlussfolgerungen gezogen? Sind die "Lessons learned", wie Sie es fordern?

Wolfgang Schroeder: Begrenzt. Die Kommission gibt es bis heute nicht. Aber Politik ist natürlich schon besser im Bilde, was getan werden kann, um etwa Risikogruppen zu schützen, und welche Instrumente es dafür braucht. Politikberatung im systematischen Sinne kann nur gelingen, wenn alle, die politisch mitsprechen können, auch sensibel und offen für Beratung sind. Andernfalls ist die Wahrscheinlichkeit, dass aus gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen etwas Gutes entsteht, eher begrenzt.

Foto: David Ausserhofer
Wolfgang Schroeder
ist Professor für das politische System der Bundesrepublik Deutschland an der Universität Kassel. Er ist zudem Fellow am Zentrum für Zivilgesellschaftsforschung des Wissenschaftszentrums Berlin.
Foto: David Ausserhofer

Sie forderten 2021 einen "echten Krisenstab", also Corona-Politik aus einer Hand. Merkels Nachfolger Scholz hat Ihren Rat befolgt und im Wahlkampf einen Corona-Krisenstab im Kanzleramt versprochen und dann eingerichtet. Der Stab wurde im Mai wieder aufgelöst. Seither streiten Justiz- und Gesundheitsminister um die richtige Strategie. Heißt das: Die Ampel hat den Rat der Wissenschaft erst befolgt und dann verworfen?

Wolfgang Schroeder: Der Ansatz von Olaf Scholz war vollkommen richtig. Mit Generalmajor Carsten Breuer ist sogar ein ausgewiesener Experte für Krisenkoordination eingesetzt worden. Aber was nützt der, wenn in der Regierungskoalition selbst keine Mehrheit für evidenzbasierte, abgestimmte Corona-Maßnahmen zustande kommt? Wie gesagt: Zu "Lessons learned" gehört, dass man etwas will. Das heißt übrigens nicht, dass nicht auch jenseits der öffentlichen Beschlusslage Veränderungen möglich sind. Hinzu kommt, dass auch die, die nicht wollen, nicht davor gefeit sind, dass sie am Ende etwas tun müssen und vielleicht sogar lernen können.

Wie sehen Sie Ihre Rolle als wissenschaftlicher Berater der Politik? Vielleicht als eine Art Coach oder Controller, dessen Rat eingeholt wird - aber in der Hoffnung, es werde schon nicht so schlimm kommen?

Wolfgang Schroeder: Unsere Rolle besteht darin, die Bedingungen der Möglichkeit für evidenzbasierte Politik zu verbessern. Letztlich geht es ja auch darum, systematisch gewonnene Erkenntnisse transparent zu machen, um Entscheidungen zu legitimieren und Strategien zu entwickeln. Aber der Effekt politischer Beratung ist meist überschaubar. Ein Beispiel: Empirisch belegt war, dass in der Pandemie vor allem Bewohner von Alten- und Pflegeheimen gefährdet waren. Gleichwohl waren die zusätzlichen Ressourcen, die angeboten wurden, um dieser Erkenntnis zu folgen, bemerkenswert gering. Hier wäre evidenzbasiertes, schnelles Krisenmanagement gefragt gewesen.

Der Eindruck einer ganzen Kette von Katastrophen lässt sich nicht von der Hand weisen: die Pandemie, die Hochwasserkatastrophe vom Sommer 2021, der Krieg Russlands gegen die Ukraine, verbunden mit der Energiekrise und der Inflation. Muss angesichts dessen das Thema Klimapolitik, für das die Ampel angetreten ist, zurückstehen?

Wolfgang Schroeder: Nein, im Gegenteil. Weil in aktuellen Krisen immer das Dringliche vor dem Wichtigen steht, muss man zwischen beidem die Verbindung herstellen. Das ist eine der größten Herausforderungen an die gegenwärtige Politik. Aber bei den Entlastungspaketen der Bundesregierung ist das nur unzureichend eingelöst. Eigentlich müssten die Antworten auf eine konkrete Krise so justiert werden, dass die anderen Krisen nicht außer acht gelassen werden. Anders gesagt: Die Investition in die Dringlichkeiten muss die Bewältigung der längerfristigen anderen Krisen im Blick behalten.

Foto: picture-alliance/Panama Pictures/Christoph Hardt

Niedrigwasser in Köln: Die Vielzahl politischer Krisen habe die Art und Weise verändert, wie der Kampf gegen die Erderwärmung und die sozialökologische Transformation von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat verfolgt werden müssten, sagt Politikwissenschaftler Schroeder.

Was meinen Sie?

Wolfgang Schroeder: Das Problem dieser Koalition ist aus meiner Sicht: Im Rahmen des großen "Fortschritts"-Projekts hat jeder sein Silo, das er bedienen darf. Die Möglichkeit, die jeweils andere Grundposition anzutasten, ist kaum vorhanden. Der Koalitionsvertrag basierte primär auf der langfristigen Herausforderung des Klimawandels. Angesichts der aktuellen Herausforderungen müsste die Verzahnung mit diesem zentralen Ziel neu durchbuchstabiert werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt würde ich deshalb sogar sagen: Der Vertrag bietet keine wirkliche Orientierung mehr und ist damit ungültig geworden.

Frage an den Politikberater: Was wäre Ihr Lösungsansatz?

Wolfgang Schroeder: Die Substanz dieses Bündnisses ist die sozialökologische Transformation von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat. Aber die sozioökonomischen Herausforderungen infolge des Krieges haben die Art und Weise, wie diese Ziele verfolgt werden können, fundamental verändert. Deshalb müsste das gemeinsame Fundament der Ampel in einem grundlegenden Relaunch neu fixiert werden. Ich weiß, das ist schwierig. Wenn man jetzt alles aufschnüren würde, hätte man möglicherweise andere Kräfteverhältnisse und damit eine zusätzliche Belastung für die Arbeit dieser Koalition. Unter machtpolitischen Gesichtspunkten wird man da sehr vorsichtig sein oder gar nicht drangehen. Aber perspektivisch, im Sinne der sachlichen Problemlagen, mit Blick auf mittel- und längerfristiges gutes Regieren, bedarf es eines solchen Relaunchs.

Das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Bundestag arbeitet aktuell an einem "Krisenradar", um Gesellschaft, Politik und Wirtschaft resilienter zu machen. Also handlungsfähig zu sein auch dann, wenn vieles nicht mehr funktioniert. Auch das Bundesamt für Bevölkerungs- und Katastrophenschutz legt im Auftrag der Bundesregierung Jahr für Jahr Risikoanalysen vor. Wie ernst wird diese Arbeit tatsächlich genommen?

Wolfgang Schroeder: Von den Experten selbst wird das natürlich sehr ernst genommen und in den jeweiligen Fachcommunities intensiv diskutiert. Aber damit sind die Erkenntnisse ja noch längst nicht Gegenstand politischen Handelns in einer bestimmten Konstellation. Da Politik häufig durch den Augenblick geprägt ist, ist eine Intervention zugunsten längerfristiger Ziele von außen sehr wichtig. In diesem Sinne bietet die Politikberatung die Möglichkeit, die Kraft des Augenblicks zu hinterfragen und zu überwinden, ohne dass die Machtverhältnisse des Augenblicks politisch aus dem Blick geraten dürfen. Denn sonst kommen keine politischen Entscheidungen zustande.


„Das ist das Ergebnis selbst vernachlässigter Vorsorge: Die Politik versteht sich zu sehr als Hüterin gegenwärtiger Machtverhältnisse.“
Wolfgang Schroeder

Haben Sie den Eindruck, dass Sie mit Ihrer Arbeit etwas bewirken?

Wolfgang Schroeder: Das ist eine fundamentale Frage: Wie wirkt Expertise? In der Regel nicht so, dass sie eins zu eins übersetzbar wäre. Aber sie kann eine Medizin sein, die, in den Alltagsbetrieb hineingeträufelt, dazu beiträgt, Struktur und Inhalte politischen Handelns peu à peu zu verändern. Nehmen Sie die Gesetzgebung. Bis man für einen kaum regulierten Politikbereich zu entsprechenden Gesetzen kommt, dauerte es in der Vergangenheit zwanzig Jahre.

Ist das nicht viel zu langsam?

Wolfgang Schroeder: Da haben Sie recht. So sind wir nämlich eine limitierte Gesellschaft, die Probleme zu spät bearbeitet. Nehmen Sie die Bahn. Wir haben eigentlich historisch betrachtet eines der weltweit besten Eisenbahnsysteme. Dieses System haben wir aber im Laufe der Zeit so verkommen lassen, dass es heute bei zentralen Indikatoren wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Reisequalität und Planbarkeit weit hinter dem Niveau vieler anderer Staaten liegt. Das ist das Ergebnis selbst vernachlässigter Vorsorge: Die Politik versteht sich zu sehr als Hüterin gegenwärtiger Machtverhältnisse. Dagegen hat die evidenzbasierte Politikberatung die Aufgabe, vernunftbezogene Angebote zu unterbreiten, um den Status quo durch bessere Argumente und Alternativen zu überwinden. Dies gelingt aber nur, wenn sich Politik nicht nur für den am Status quo orientierten Machterhalt interessiert, sondern auch für die Zukunft verantwortlich fühlen.

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Vorsorge kann Unsummen kosten. Ist die Bevölkerung bereit, das mitzutragen?

Wolfgang Schroeder: Die Erzählung ist immer: Das ist alles zu teuer, dafür haben wir kein Geld. Wir wissen aber alle, dass Nichtvorsorge am Ende um ein Vielfaches teurer ist als das stetige Investieren in die eigene Infrastruktur. Schauen Sie sich die Bahnhöfe in unserem Land an. Das waren mal Paläste des mobilen Fortschritts für alle. Heute sind das reine Funktionalitätsbehausungen, in denen sie Automaten statt Menschen finden. Es ist eigentlich kein Wunder, dass dort nur hinkommt, wer wirklich muss. Dabei ist das klimaschonende Bahnreisen jetzt und in Zukunft energiepolitisch enorm wichtig.

Aber für Qualität und Schönheit sind die Zeiten nicht die richtigen.

Wolfgang Schroeder: Wissen Sie, wir geben gerade so viel Geld aus. Es ist immer die Frage, wofür, für wen und wie. Warum sind wir nicht in der Lage, diese riesigen Summen so zu steuern, dass sie nicht nur den Eindruck vermitteln, der Staat tue irgendwas? Es geht auch darum, etwas Wert- und Nachhaltiges zu tun, das in die Zukunft reicht.