Parlamentarismus und die Pandemie : "Parlamente in gefestigten Demokratien haben sich bewährt"
Einfluss unter Kontaktbeschränkungen: Der Politikwissenschaftler Sven T. Siefken über die Rolle der Parlamente während der Corona-Pandemie.
Herr Siefken, Sie organisieren ein internationales Forschungsprojekt, das die Rolle der Parlamente während der Pandemie untersucht. Was ist das Interessante an dieser Fragestellung?
Sven T. Siefken: Bei der Pandemie hatten wir es mit einer Situation zu tun, die plötzlich auf der ganzen Welt unerwartet und fast gleichzeitig aufgetreten ist. Das hat Parlamente überall vor enorme Herausforderungen gestellt. Corona war für sie ein doppelter externer Schock: Zum einen gab es die Notwendigkeit, auf die Pandemie selbst schnell zu reagieren, um die eigene Arbeitsfähigkeit zu sichern. Zum anderen gab es den Schock für die Parlamente, dass nun die Exekutive sehr viel stärker gefragt war.
Krisen gelten als Zeiten der Exekutive. Warum eigentlich?
Sven T. Siefken: Parlamente sind natürlich gerade nicht zur Beschleunigung von Entscheidungen da, sondern zur Entschleunigung. Darum wählt in einem parlamentarischen Regierungssystem ein Parlament auch eine Regierung, um schnell handlungsfähig zu sein; in der klassischen Parlamentarismustheorie wurde die Regierung deswegen von Walter Bagehot sogar als "erster Ausschuss des Parlaments" bezeichnet. Das heißt aber nicht, dass Parlamente damit alle Bedeutung abgeben und in der Krisenreaktion irrelevant sind - ganz im Gegenteil: Sie sind extrem wichtig.
Sie blicken nicht nur in die gefestigten Demokratien, sondern auch in nicht-demokratische Staaten beziehungsweise nicht-gefestigte Demokratien. Was zeigt der Vergleich?
Sven T. Siefken: Das ist eine unser zentralen Erkenntnisse bisher: Die Stärke der Demokratie, das lässt sich rechnerisch mit unseren Daten zeigen, war der entscheidende Faktor für den Einfluss der Parlamente auf die Corona-Politik - und nicht etwa die Stärke des Infektionsgeschehens. In nicht-demokratischen beziehungsweise nicht gefestigten Demokratien war die Gefährdung der Parlamente hingegen besonders groß. Teilweise ist die Pandemie als Vorwand genutzt worden, um Parlamente zurückzudrängen. Unter dem Vorwand des Pandemieschutzes wurden beispielsweise in Nigeria, Serbien und Südafrika Parlamente vorübergehend geschlossen. Im Umkehrschluss bedeutet das: Die Parlamente in gefestigten Demokratien haben sich insgesamt bewährt.
Woran bemisst sich das?
Sven T. Siefken: Es ist gerade Aufgabe der Parlamente, auf einen Ausgleich von Interessen hinzuwirken. In der Pandemiesituation ging es eben nicht nur darum, einseitig das Infektionsgeschehen zu begrenzen, wie es etwa in China gemacht wird. Sondern es muss geschaut werden, was ist eigentlich die richtige Balance zwischen dem Niederringen der Infektionen, den Freiheitsrechten und der Vermeidung massiver sozialer und wirtschaftlicher Folgen. Dafür sind Parlamente ganz besonders wichtig. Aber das funktioniert auch nicht automatisch gut, sondern hängt zudem stark von den beteiligten politischen Akteuren ab. Großbritannien und die USA zeigen dies: Trotz eines starken Parlaments beziehungsweise Kongresses folgte kein gutes Pandemiemanagement: Polarisierung und Populismus stellten in der Krisenreaktion große Probleme dar.
Das heißt, die zu Beginn der Pandemie zu spürende Sehnsucht nach einer starken exekutiven Führung zur Pandemiebekämpfung war ein Trugschluss?
Sven T. Siefken: Absolut. Teilweise wurde schon ein neuer "globaler Systemwettbewerb" ausgerufen. Doch auch für solche Situationen wie diese Pandemie haben wir die Parlamente: Wenn man Entscheidungen unter Unsicherheit treffen muss, aber nicht eindeutig gesagt werden kann, was richtig und was falsch ist. Dafür sind Parlamente - wenn sie es richtig machen - sehr gut geeignet. Sie dürfen sich dann aber nicht nur auf das Entscheiden zurückziehen, sondern müssen die entsprechenden Abwägungen und ihre Ergebnisse auch öffentlich erklären und vermitteln. Das ist eigentlich nichts Neues, wurde in der Corona-Situation aber wieder besonders deutlich.
Wie hat sich der Bundestag geschlagen? Gerade in den ersten zwölf bis 18 Monaten der Pandemie gab es ja oft die Kritik, dass das Parlament kaum mitwirke und die Entscheidungen im Kanzleramt und von den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten getroffen werden.
Sven T. Siefken: Diese Kritik ist deutlich überzogen, denn der Bundestag war in die Entscheidungsfindung eingebunden. Aber viel von dieser parlamentarischen Mitsteuerung verlief abseits der Öffentlichkeit und hinter den Kulissen, das ist ja auch ganz normal im Parlamentarismus, gerade zwischen den Fraktionen der Mehrheit und der Regierung. Doch selbst Oppositionspolitiker berichteten uns, dass sie zu Beginn der Pandemie viel besser eingebunden wurden als im Normalzustand. Für die Kommunikation der eigenen Rolle hat das Parlament hingegen keinen guten Weg gefunden. Und als dann nach dem Überstehen der ersten "Corona-Welle" die von Ihnen genannte Kritik anschwoll, ist sie im Parlament sogar aufgegriffen und so noch verstärkt worden.
Kommen wir zum institutionellen Rahmen zurück. Vor welchen großen Herausforderungen standen die Parlamente zu Beginn der Pandemie?
Sven T. Siefken: Wie alle anderen Organisationen auch mussten die Parlamente mit der Bedrohung durch die Krankheit selbst umgehen. Parlamente sind auf den persönlichen Austausch in größeren Gruppen ausgerichtet - etwa im Plenarsaal, in Fraktionen oder den Ausschüssen. Genau das fiel aber unter die Kontaktbeschränkungen in der Gesundheitskrise von Corona. Die eigentliche Herausforderung bestand dann darin, dass Parlamente relativ strikte Regelwerke haben, zum Beispiel die Geschäftsordnung des Bundestages. Da konnte man nicht so flexibel wie in einem Unternehmen sagen: Das machen wir jetzt alles anders.
Wie haben die Parlamente reagiert?
Sven T. Siefken: Man hat zum Beispiel die Quoren für die Beschlussfähigkeit abgesenkt, im Bundestag etwa wurde sie vorübergehend von 50 Prozent der Mitglieder auf 25 Prozent vermindert. Im Parlament von Israel, der Knesset, hat man ganz zu Beginn der Pandemie die Anwesenheit im Plenarsaal auf zehn Abgeordnete beschränkt. In Ungarn, den Philippinen und Großbritannien wichen die Parlamente auch auf andere Räumlichkeiten aus. Auch in den Verfahren wurde ganz unterschiedlich reagiert, häufig wurden Prozesse digitalisiert, manchmal auch Abstimmungen und Wahlen - vor allem aber in der Ausschussarbeit wurde dies genutzt: Die Teilnahme von Abgeordneten per Videokonferenz wurde möglich gemacht, und auch öffentliche Anhörungen wurden vielfach auf diesem Wege durchgeführt. Als Fazit lässt sich festhalten, dass insgesamt die Kontinuität der Parlamentsarbeit sichergestellt werden konnte.
Im Bundestag wurde zu Beginn der Pandemie über eine Art Notfallparlament nachgedacht. Die Idee wurde schließlich verworfen. Gab es ähnliche Überlegungen anderswo auf der Welt?
Sven T. Siefken: Der Vorschlag, der ganz am Anfang vom damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble eingebracht worden ist, setzte sich nicht durch, auch weltweit gab es so etwas kaum. Im Vergleich zeigt sich aber, dass einige Parlamente auf spezielle Corona-Ausschüsse gesetzt haben. Das war zum Beispiel so in Norwegen, Frankreich, Tschechien, Australien und den USA. In 13 der 30 von uns näher untersuchten Parlamenten wurden Corona-Ausschüsse installiert. Dort wurde mit unterschiedlichem Zuschnitt die Bearbeitung der Pandemie gebündelt. Ein entsprechender Corona-Ausschuss konnte jenseits der inhaltlichen Mitwirkung auch kommunikativ erhebliche Wirkung entfalten, wie das Beispiel von Neuseeland zeigt. Der Bundestag hat darauf verzichtet, wenngleich im Frühjahr 2021 ein Unterausschuss des Gesundheitsausschusses eingesetzt wurde. Der wurde aber öffentlich kaum wahrgenommen.
Stärkt es oder schwächt das die Parlamente, wenn die Ausschussstruktur nicht verändert wird?
Sven T. Siefken: Eigentlich ist es eine Stärke eines Parlaments, die etablierte Ausschussstruktur beizubehalten. Wir wissen ja, wenn wir über den Bundestag sprechen, dass die Abgeordneten in den Ausschüssen Expertinnen beziehungsweise Experten für das jeweilige Fachgebiet sind. Das gilt auch in der Pandemie: Der Arbeits- und Sozialausschuss befasst sich mit eben diesen Aspekten von Corona, während sich etwa die Mitglieder des Wirtschaftsausschusses auf die spezifischen ökonomischen Folgen und Gegenmaßnahmen konzentrieren. Hätte man alle in einem Ausschuss gemacht, wäre es schwieriger gewesen, all diese Perspektiven einzubringen.
Nun dauert die Corona-Krise schon eine geraume Weile an. Eine nächste Welle könnte im Herbst kommen. Wird die Krise damit zum Normalzustand der im normalen Rahmen angegangen wird?
Sven T. Siefken: Das ist die große Frage, die uns alle beschäftigt. Das politische Verhalten hat sich jedenfalls im Laufe der Krise in vielen Ländern verändert. Man sieht, dass die politischen Akteure ihre Strategien angepasst haben, dass teilweise auch in den Institutionen Veränderungen erfolgten. Doch sehr weitreichend ist in Bezug auf die Parlamente das zunächst von uns vermutete "Lernen in der Krise" nicht. Wichtig war, was ganz am Anfang passiert ist, wie also auf den initialen doppelten Schock reagiert worden ist. Von dort aus sieht man eine schrittweise Normalisierung. Bei allen Unterschieden von politischen Systemen bleibt es die besondere Herausforderung für die Parlamente, ihre eigene Bedeutung sicherzustellen - und diese auch wirksam darzustellen. Denn wenn die gewählten Volksvertreterinnen und -vertreter zwar in Wirklichkeit bedeutsam sind, aber nicht entsprechend wahrgenommen werden, dann ist das auch ein Problem in der Politik. Es bleibt daher notwendig, die Parlamente in der Pandemie im Blick zu behalten - nicht nur, aber auch in Deutschland.