Gastkommentare : Pro und Contra: Ist Deutschland solidarisch genug mit jüdischem Leben?
Findet jüdisches Leben in Deutschland ausreichend Unterstützung? Für Markus Decker lässt die Politik daran großteils keine Zweifel, Hagen Strauß wünscht sich mehr.
Pro
Große Teile wissen, auf wessen Seite sie im Kampf zwischen Israel und seinen islamistischen Feinden stehen
Dem Terrorangriff der radikalislamischen Hamas auf Israel und seinen Folgen lässt sich weiß Gott nichts Positives abgewinnen. Doch eines immerhin kann man feststellen: Die Anmerkung der einstigen Kanzlerin Angela Merkel, das Existenzrecht Israels sei "deutsche Staatsräson", erfüllen die führenden Repräsentanten von Staat, Regierung und Parlament seither mit Leben. Zumindest an der Stelle ist die Lehre aus dem Nationalsozialismus und der beispiellosen industriellen Vernichtung von Millionen Juden nachhaltig. Alle wissen: Ohne den Holocaust würde es Israel so vermutlich gar nicht geben - und nicht geben müssen.
Man kann Zweifel daran haben, wie sehr diese Haltung von der Gesellschaft geteilt wird. Antisemitismus gibt es schließlich in linken, rechten und islamistischen Kreisen. Überdies ist Solidarität nicht gleichbedeutend mit vorbehaltloser Unterstützung der Regierung von Benjamin Netanjahu. Das gilt umso mehr, als diese sich im eigenen Land breiter Kritik ausgesetzt sieht. Dann ist Kritik hierzulande ebenfalls legitim, etwa an der Art der Kriegführung, der fehlenden Rücksichtnahme auf Zivilisten und israelische Geiseln sowie fehlenden politischen Perspektiven für die Zeit danach.
Doch dass der Bundespräsident, der Kanzler, seine Ministerinnen und Minister sowie große Teile des Bundestages wissen, auf wessen Seite sie im Kampf zwischen Israel und seinen islamistischen Feinden in Gaza, im Libanon, im Jemen und nicht zuletzt im Iran zu stehen haben, das ist ebenso offenkundig wie beruhigend. Offenkundig ist ferner die Ablehnung pro-palästinensischer Proteste, die sich immer wieder mit Antisemitismus mischt. Hier sind auch nach einem Jahr Krieg keine Zweifel angebracht. Gott sei Dank.
Contra
Die Zeit dafür, dass der Kampf gegen Antisemitismus Verfassungsrang erhält, ist jetzt
Dass es der Bundestag seit Monaten nicht schafft, eine gemeinsame Resolution gegen Antisemitismus abschließend auf den Weg zu bringen, zeigt, wie schnell die Solidarität mit jüdischem Leben in Deutschland enden kann: Spätestens, wenn parteipolitische Interessen ins Spiel kommen.
Wenn aber "die da oben" es noch nicht einmal schaffen, einen seit Gründung der Bundesrepublik bestehenden, gesamtgesellschaftlichen Konsens geeint zu Papier zu bringen und dadurch zu verteidigen, warum sollte man von denen "da unten" mehr Engagement erwarten? So einfach ist die Gleichung. Es gibt Zeiten, da hat die Politik eine besondere Vorbildfunktion. Und das ist jetzt.
Jüdisches Leben muss besser geschützt werden. Punkt. Wenn sich Juden nicht mehr in die U-Bahn trauen, Stolpersteine aus Gehwegen gerissen werden und Menschen in sozialen Netzwerken übelste antisemitische Anfeindungen über sich ergehen lassen müssen, muss gehandelt werden. Auch die Grausamkeiten des Nahost-Krieges ändern daran nichts. Bundespräsident Steinmeier hat von einer Bürgerpflicht gesprochen, recht hat er. Wo es geht, wo jeder einzelne dies leisten kann, gilt es, sich schützend vor jüdisches Leben zu stellen. Klingt einfach, erfordert aber vor allem eins: Mut.
Den großen Rahmen muss wiederum die Politik setzen. Neben noch möglichen, rechtlichen Maßnahmen stellt sich die Frage, ob der Kampf gegen den Antisemitismus nicht auch Verfassungsrang erhalten sollte. Die Antwortet darauf lautet: Ja. Das wäre weit mehr als reine Symbolpolitik. Sondern damit verbunden wäre ein klarer Handlungsauftrag an Bund und Länder mit erheblichen, gesetzlichen Folgewirkungen. Die Zeit dafür ist jetzt.
Der Bundestag gedenkt am Jahrestag des Hamas-Überfalls auf Israel der Opfer. In der Debatte über die Folgen des Angriffs wird vor wachsendem Antisemitismus gewarnt.
Am Jahrestag des Überfalls am 7. Oktober ist die Lage in Nahost gefährlich wie nie. Israel kämpft gegen Hamas und Hisbollah. Zugleich droht ein noch größerer Krieg.