Ein Schrecken, der nicht endet : Israel ist im Existenzkampf
Am Jahrestag des Überfalls am 7. Oktober ist die Lage in Nahost gefährlich wie nie. Israel kämpft gegen Hamas und Hisbollah. Zugleich droht ein noch größerer Krieg.
Den Satz hat man im vergangenen Jahr öfter gelesen oder gehört: Für die meisten Israelis mag der 7. Oktober einfach nicht vergehen. Während die Welt sich weiterdreht, befindet sich die israelische Gesellschaft in einem Tunnel, an dessen Ende sie kein Licht sieht. Und doch hat sich seit der kriegerischen Eskalation im Norden des Landes, seit der Krieg gegen die libanesische Hisbollah im Fokus steht, innerhalb Israels einiges geändert. Das zutiefst gespaltene Land hat einen gewissen Konsens wiedergefunden, egal wie fragil er sein mag.
Israels Bevölkerung ist zutiefst gespalten
Solange der Kampf gegen die Hamas in Gaza im Mittelpunkt stand, blieb deutlich, was man schon vor dem 7. Oktober 2023 sehen konnte: die tiefe Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft, die sich in monatelangen Demonstrationen gegen die von der Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanyahu geplante illiberale, antidemokratische Justizreform ausdrückte. Die Bevölkerung Israels stand sich zunehmend feindselig gegenüber: Da die "Linken", die das liberale Rechtssystem retten wollten, da die "Rechten", die Netanyahus Weg als den einzig richtigen für den jüdischen Staat betrachteten.
Am 7. Oktober war das alles erst einmal vorbei. Das Massaker der Hamas, das mit 1.200 Ermordeten größte Massaker an Juden seit dem Holocaust, fand ausgerechnet auf jüdischem Gebiet statt. Die Politik, die Sicherheitskräfte und Geheimdienste hatten versagt. Der jüdische Staat, der nach der Shoah als Versprechen geboren wurde, das jüdische Volk nie mehr wehrlos seinen Feinden zu überlassen, hatte diesen ungeschriebenen Pakt gebrochen. Ein Trauma.
Schlagartig waren alle Differenzen unter der jüdischen Bevölkerung verschwunden. Ob links oder rechts, ob religiös oder säkular, die Israelis eilten zu ihren Militärbasen, selbst Reservisten, die gar nicht einberufen waren. Das Land musste gerettet werden. Genauso wie die rund 250 Geiseln, die die Hamas nach Gaza verschleppt hatte. Denn das Ethos Israels manifestiert sich in dem Credo, dass niemals auch nur ein einziger Jude zurückgelassen wird. Niemals.
Befreiung der Geiseln dauert, die Kritik an Netanjahu wächst
Was dann kam, ließ rasch die Wunden in der Gesellschaft wieder aufreißen. Der Krieg gegen die Hamas dauerte länger an als man dies für möglich gehalten hatte. Zwar hatte man nach einem Monat eine kurze Feuerpause erreicht, um rund hundert Geiseln freizubekommen, doch es blieben immer noch mehr als hundert in den Klauen der Hamas zurück. Bis heute. Rasch zeigte sich wieder die Lagerbildung wie schon zur Zeit der Auseinandersetzungen um die Justizreform. Die Gegner Benjamin Netanyahus, also die große Mehrheit der israelischen Gesellschaft, warfen und werfen ihm vor, er ziehe den Krieg deswegen in die Länge, weil er sich nur so an der Macht halten könne. Aus demselben Grund habe er in den vergangenen Monaten die Verhandlungen über eine Freilassung aller noch verbliebener Geiseln platzen lassen. Netanyahu ist in den Augen vieler Israelis nicht nur ein schlechter Premier, sondern ein Verräter am jüdischen Volk. Er lässt seine Bürger im Stich.
Neue Demonstrationen begannen, meist angeführt von den Familien der Geiseln. Doch sie entwickelten keine Wirkungskraft. Im Krieg steht die Mehrheit der Gesellschaft hinter der Fahne und würde nicht einmal diese verhasste Regierung stürzen. Netanyahu weiß das und gibt sich unbeirrt gegenüber Kritik. Nicht einmal die USA können ihn bremsen, er agiert, wie er es für richtig hält. Oder, wie viele Beobachter sagen: Er lässt sich von den beiden Rechtsextremen in seiner Regierung, dem Nationalen Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir und dem Finanzminister Bezalel Smotrich, treiben. Sie drohen jedes Mal mit einem Ausstieg aus der Koalition, wenn sie das Gefühl haben, Netanyahu könnte dem Druck der internationalen Staatengemeinschaft nachgeben. Ohne sie wäre er politisch am Ende.
Fotos der Geiseln und gefallenen Soldaten sind omnipräsent im Land
In den Straßen Israels manifestiert sich das Dilemma der Bürger. Im ganzen Land hängen überall Fotos der Geiseln. Daneben sieht man die Fotos der gefallenen Soldaten, deren Zahl immer weiter anwächst, selbst wenn sie wesentlich niedriger ist als man dies zu Beginn des Krieges befürchtet hatte.
Israelischer Premier unter Druck: Nach der Pager-Attacke auf die Hisbollah stiegen Benjamin Netanjahus Zustimmungswerte wieder.
Doch nun scheint auf einmal alles anders. Seit Israel mit seinem Cyber-Angriff auf die Pager der schiitschen Hisbollah im Libanon den Großangriff auf diesen stärksten und mächtigsten Verbündeten des iranischen Regimes begonnen hat, ist die Solidarität unter den israelischen Bürgern wieder gestiegen, sogar die Zustimmungswerte für Premier Netanyahu. Seit dem 8. Oktober 2023 beschießt die Hisbollah den Norden Israels aus "Solidarität" mit der Hamas mit Raketen, Granaten und Drohnen. Die Gefahr eines Überfalls der berüchtigten Radwan-Truppen, einer Spezialeinheit der Hisbollah, auf israelische Grenzdörfer war so groß, dass rund 60.000 Israelis evakuiert werden mussten. Sie leben seitdem als Binnenflüchtlinge im Zentrum des Landes.
Mitte September hat die Regierung nun das Ziel ausgegeben, diese Menschen in Sicherheit nach Hause zurückkehren zu lassen. Jedes Land, jede Regierung würde dasselbe tun. Selbstverständlich unterstützten alle Israelis dieses Ziel, trotz der Befürchtung, der Krieg gegen die Hisbollah könne schrecklicher werden als alles, was Israel in seiner jungen Geschichte bislang erlebt hat.
Tötung Nasrallahs stellt Ruf von Geheimdienst und Armee wieder her
Doch der überraschende, erfolgreiche Angriff auf die Kommunikations- und Kommandostrukturen der Hisbollah, die Ausschaltung ihres Führers Hassan Nasrallah, die Zerstörung von Tunnelanlagen, Waffendepots und Raketenfabriken, geben den Israelis das Gefühl, dass die existentielle Bedrohung von rund 150.000 zum Teil präzisionsgesteuerten Raketen endlich ausgeschaltet werden kann. Mit ihren taktischen und präzisen Schlägen gelang es Geheimdienst und Armee obendrein, ihre Reputation in den Augen der Israelis wiederherstellen. Die Moral wächst. Nach Monaten eines zermürbenden Krieges in Gaza haben die Israelis nun das erste Mal das Gefühl, endlich Oberwasser zu bekommen.
Mehr zum Jahrestag des Hamas-Überfalls
Der Bundestag gedenkt am Jahrestag des Hamas-Überfalls auf Israel der Opfer. In der Debatte über die Folgen des Angriffs wird vor wachsendem Antisemitismus gewarnt.
Findet jüdisches Leben in Deutschland ausreichend Unterstützung? Für Markus Decker lässt die Politik daran großteils keine Zweifel, Hagen Strauß wünscht sich mehr.
Wenn die Israelis ihre Angreifer nicht bezwingen, werden sie vernichtet, sagt die CDU-Abgeordnete Gitta Connemann. Hamas und Hisbollah wollen den Tod aller Juden.
Tatsächlich hat sich die Lage gedreht. Die Hamas in Gaza ist militärisch praktisch geschlagen, sie ist zum Guerillakampf übergegangen. Die Hisbollah ist dermaßen geschwächt, dass das Regime in Teheran sich gezwungen sah, mit einem Angriff ballistischer Raketen auf Israel zu reagieren. Israel hat Vergeltung angekündigt, worauf wiederum der Iran entsprechend reagieren will. Die Gefahr eines umfassenden Krieges im Nahen Osten ist größer denn je.
Konfrontation mit Iran wird Realität
Die Gesellschaft in Israel schwankt daher zwischen extremen Gefühlen. Mit der Ausweitung des Krieges scheint die seit Jahrzehnten erwartete direkte Konfrontation mit dem Iran als Drahtzieher aller Feindseligkeiten gegen Israel Realität zu werden. Die Israelis wissen, dass sie sich in einem Existenz- und Überlebenskampf befinden, selbst wenn der Rest der Welt sie inzwischen als die eigentlichen Aggressoren wahrnimmt. Das setzt ungeahnte Kräfte frei, die Israels Feinde möglicherweise unterschätzt haben. Doch bei aller Entschlossenheit - im Alltag ist die Angst ein ständiger Begleiter. Vor allem bei Raketenalarm. Und um die Geiseln scheint sich die israelische Regierung kaum noch zu kümmern. Das Trauma bleibt lebendig.