Asyl in Deutschland : Streit um Russlands Deserteure
Die EU-Staaten suchen nach einer gemeinsamen Linie im Umgang mit russischen Kriegsdienstverweigerern - auch die Bundestagsfraktionen sind sich uneinig.
Bilder von Schlangen wartender Menschen und Autokolonnen vor Grenzübergängen, Berichte über einen Ansturm auf die russischen Grenze zu Georgien, zu Kasachstan, zu Finnland, über ausverkaufte Flugtickets für nur noch wenige Verbindungen von Russland ins Ausland - die vergangene Woche ließ erkennen, dass die vom russischen Präsidenten Wladimir Putin am 21. September ausgerufene Teilmobilmachung mit der Einberufung von 300.000 Reservisten offenkundig eine Ausreisewelle von zehntausenden Männern ausgelöst hat, die sich Moskaus Angriffskrieg gegen die Ukraine entziehen wollen.
Finnland machte in der Nacht zum Freitag seine Grenze für russische Touristen dicht. Die anderen EU-Nachbarn Russlands, Estland, Lettland, Litauen und Polen, hatten die Einreise für russische Staatsbürger bereits am 19. September beschränkt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte derweil zur Frage der Aufnahme von Russen, die sich der Einberufung verweigern, er sei dafür, diesen Menschen Schutz anzubieten. Natürlich müssten sie "vorher eine Sicherheitsüberprüfung durchlaufen, damit wir wissen, wen wir in unser Land lassen", fügte er in einem Interview zur Wochenmitte hinzu.
Die Europäische Union sucht noch nach einer gemeinsamen Linie
Die EU-Staaten suchen indes noch nach einer gemeinsamen Linie im Umgang mit russischen Kriegsdienstverweigerern, die ihre Heimat verlassen wollen. Ein Treffen der 27 EU-Botschafter brachte vor einer Woche keine Lösung. Die EU-Kommission sei aufgefordert worden, die Leitlinien zur Visavergabe "unter Berücksichtigung der Sicherheitsbedenken der Mitgliedstaaten zu überprüfen, zu bewerten und gegebenenfalls zu aktualisieren", hieß es anschließend von der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft lediglich.
Am Donnerstagabend befasste sich der Bundestag mit der Aufnahme russischer Kriegsdienstverweigerer. Ein Antrag der Linksfraktion, ihnen Schutz zu bieten, wurde von den übrigen Fraktionen abgelehnt. Darin forderte die Fraktion die Bundesregierung auf, "sofort alle notwendigen Maßnahmen auf nationaler und europäischer Ebene zu ergreifen, damit russischen Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern, die sich dem Krieg in der Ukraine durch Flucht entziehen wollen, eine sichere Einreise in die EU beziehungsweise nach Deutschland" ermöglicht und ihnen ein sicherer Schutz und Aufenthaltsstatus erteilt wird.
Linke fordert von der Bundesregierung humanitäre Visa für russische Deserteure
In der Debatte sagte Clara Bünger (Linke), dass mehrere Hunderttausend Russland verlassen hätten. Dabei gingen russische Deserteure und Kriegsdienstverweigerer hohe Risiken ein; bei Kriegsdienstverweigerung drohten bis zu 15 Jahre Haft. Je mehr sich jedoch dem Kriegsdienst entzögen, desto schwieriger werde die Fortsetzung des Krieges in der Ukraine. Daher begrüße sie, dass nun parteiübergreifend Schutz für russische Deserteure und Kriegsdienstverweigerer gefordert werde. Jetzt müsse die Regierung aber auch handeln, "denn wie sollen die russischen Deserteure hier einen Asylantrag stellen?", fügte sie hinzu. Ohne humanitäre Visa, die die Regierung bereitstellen müsse, bleibe ihnen nur, sich auf gefährliche Fluchtrouten zu begeben.
Moritz Oppelt (CDU) wandte sich gegen deutsche Alleingänge. Eine "überstürzte massenhafte Aufnahme russischer Deserteure etwa durch die reihenweise Erteilung humanitärer Visa" komme für die Union nicht in Betracht. Mit der Aufnahme von 1,1 Millionen Ukrainern in den vergangen sieben Monaten leiste Deutschland bereits einen wichtigen humanitären Beitrag, und teilweise stießen die Aufnahmekapazitäten an ihre Grenzen. Laut Grundgesetz genieße ein Kriegsdienstverweigerer Asyl, der sonst mit hoher Wahrscheinlichkeit an Kriegsverbrechen teilnehmen müsste. Wenn eine Einzelfallüberprüfung ergebe, dass dies bei einem russischen Deserteur zutrifft, "bieten wir Schutz". Notwendig sei auch eine Sicherheitsüberprüfung, denn die Aufnahme russischer Deserteure dürfe nicht zum Sicherheitsrisiko für Deutschland werden.
AfD nennt Asyl für Kriegsdienstverweigerer aus Russland eine "Schnapsidee"
Julian Pahlke (Grüne) sprach von einer "inneren Auseinandersetzung", einerseits "unverbrüchlich an der Seite der Ukraine zu stehen" und andererseits "den Russen Schutz zu gewähren, die ihn brauchen". Gleichzeitig sei aber jeder Soldat, der keine Waffe ergreifen will und stattdessen flieht, "ein Soldat, der nicht auf unsere ukrainischen Verbündeten schießt". Um den Betroffenen die Einreise in die EU und nach Deutschland zu ermöglichen, müsse man jetzt die Spielräume bei der Visa-Vergabe nutzen und über die humanitäre Aufnahme sichere Wege gewähren.
Rüdiger Lucassen (AfD) nannte es eine "Schnapsidee", russischen Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern Asyl zu gewähren. Sie nach Deutschland zu rufen, sei in der gegenwärtigen Kriegslage auch gefährlich, da die Bundesregierung "mit dieser Entscheidung in das russische Wehrsystem" eingreife und Deutschland damit "einen Schritt weiter in Richtung Kriegspartei" führe, warnte Lucassen.
FDP sieht gute Erfolgschancen für Asylanträge geflohener Soldaten
Für Helge Lindh (SPD) muss auch ohne eine auf EU-Ebene abgestimmte Vorgehensweise sichergestellt sein, "dass Personen, die ein Asylgesuch äußern, statt geschlossenen Grenzen der Weg in das Asylverfahren offensteht". Zu diesem Verfahren gehöre auch eine Sicherheitsüberprüfung. Kriegsverbrecher dürften "bei uns keinen Schutz finden, aber lasst uns nicht dazu beizutragen, dass Personen, die unsere Werte teilen, demnächst gegen ihren Willen zu Kriegsverbrechern werden", gab Lindh zu Protokoll.
Stephan Thomae (FDP), der seine Rede gleichfalls zu Protokoll gab, sieht für Asylanträge russischer Deserteure und Kriegsdienstverweigerer in Deutschland gute Erfolgsaussichten. Es sei aber "erhöhte Wachsamkeit geboten", da es erstaunlich wäre, wenn Putin nicht versuchen würde, "auf dem Asylweg seine Agenten nach Europa einzuschleusen".