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Gerechtigkeit in der Verfassung : "Das Grundgesetz macht insgesamt einen guten Job"

Rechtswissenschaftlerin Anna Katharina Mangold im Interview über Anspruch und Umsetzung des Grundgesetzes, Gleichberechtigung und weiterhin bestehende Lücken.

11.04.2023
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7 Min

Frau Mangold, 75 Jahre nach Entstehung des Grundgesetzes und damit von Artikel 3, Absatz 2: Sind Männer und Frauen gleichberechtigt?

Anna Katharina Mangold: Positiv zu vermerken ist, dass die Norm zur Gleichberechtigung im Laufe der bundesrepublikanischen Verfassungsgeschichte mit Leben gefüllt worden ist. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Frauen auf dieser Norm, auf Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes, beharrten. So blieb es nicht bei geduldigem Papier, auf das gedruckt wurde, sondern der Artikel meint echt etwas. Wichtig waren die frühen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die Normen für verfassungswidrig erklärten, die diesem Gleichheitsprinzip widersprachen. Das hat dazu geführt, dass Artikel 3 Absatz 2 tatsächlich ernst genommen wurde.

Können Sie ein Beispiel für ein solches Urteil nennen?

Anna Katharina Mangold: Das war zum Beispiel die Stichentscheidsregelung, der zufolge bei Uneinigkeit zwischen dem Ehemann und der Ehefrau in Sachen Kindesfürsorge der Ehemann das letzte Wort haben sollte. Das hat das Bundesverfassungsgericht 1959 für verfassungswidrig erklärt, weil hier die Gleichberechtigungen von Männern und Frauen nicht anerkannt wird.

Foto: picture alliance / Oscar Poss

"Es gab große Erfolge, wir leben schließlich nicht mehr wie noch in den 50ern", bilanziert Mangold.

Es musste also schon noch nachgesteuert werden, damit das Grundgesetz nicht nur das Papier wert ist, auf dem es steht?

Anna Katharina Mangold: Ja. Denn es gibt neutral formulierte Normen, die dennoch in ihren Auswirkungen unterschiedliche Konsequenzen für Männer und Frauen zeitigen. Ein einfaches Beispiel: Wenn die gesamte Rechtsordnung am Vollerwerbsarbeitnehmer ausgerichtet ist, Frauen aber typischerweise nicht voll erwerbstätig sind, weil sie sich aus traditionellen Arbeitsteilungsgründen innerhalb der Familie oder wegen Rollenzuweisungen um die Kinder kümmern, dann sind Normen, die etwa die Rentenansprüche von Frauen nicht regeln, verfassungswidrig. Weil sie faktisch dazu führen, dass Frauen schlechter behandelt werden. Das ist die Unterscheidung zwischen einer formalen Ungleichbehandlung, die aus dem Text hervorgeht, und einer substanziellen, einer materiellen Ungleichbehandlung, die sich in den Auswirkungen zeigt.

Die Normen sind also nicht fair?

Anna Katharina Mangold: Die Normen sind zwar dem Wortlaut nach neutral, treffen aber eben nicht auf eine neutrale, gleichberechtigte Lebenswirklichkeit. Sondern auf eine, in der Frauen und Männer unterschiedlich mächtig sind.

Wie lässt sich das ändern?

Anna Katharina Mangold: Es gibt viele Bereiche, in die wir Einblicke haben. Das Arbeitsrecht ist besonders eklatant betroffen. Da geht es nicht nur um die Frage des gleichen Lohns für gleiche Arbeit. Artikel 3 Absatz 2 schreibt explizit vor, dass der Staat auf die faktische Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern hinzuwirken hat. Es geht eben nicht nur darum, dass Papier geduldig ist, wir in Wirklichkeit aber Ungleichheiten noch und nöcher beobachten. Es geht darum, die tatsächliche Gleichberechtigung voranzutreiben.


„Die soziale Frage ist sehr wenig adressiert im Grundgesetz.“
Anna Katharina Mangold

Fallen in diesem Punkt also Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit augenscheinlich auseinander?

Anna Katharina Mangold: Ich würde sagen, da ist noch genug, das nachgebessert werden muss - obwohl ich den Erfolg nicht kleinreden möchte, dass so eine Norm überhaupt in unserer Verfassung steht. Wenn solch ein Gleichheitsversprechen enthalten ist, dann entfaltet sich dieses Versprechen allmählich, weil es genutzt werden kann. Es kann genutzt werden, um Verfassungsbeschwerden zum Bundesverfassungsgericht zu bringen und dergleichen. Es gab große Erfolge, das zeigt sich auch in der Lebenswirklichkeit; wir leben schließlich nicht mehr wie noch in den 50ern.

An welcher Stelle sehen Sie in der Verfassung noch eine weitere Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit?

Anna Katharina Mangold: Ich will erstmal grundsätzlicher die Frage aufwerfen, ob der Parlamentarische Rat die Dinge wirklich so klar gesehen hat, wie es heute oft behauptet wird. Ein Beispiel: Da wurden aus Gründen, die historisch nicht tragfähig sind, direktdemokratische Elemente mit großem Misstrauen beäugt.

Sie meinen Mittel wie Volksabstimmungen?

Anna Katharina Mangold: Ja, zum Beispiel. Es gab damals eine Ideologie, die gegen direkte Demokratie gerichtet war und die repräsentative Demokratie demgegenüber sehr gestärkt hat. Das hat dazu geführt, dass Volksabstimmungen, die in den Landesverfassungen teils vorgesehen sind, nicht so ernst genommen werden. Der zweite Punkt, an dem wir sehen, dass es auch eine Verengung der Möglichkeiten gegeben hat, ist das Aussparen sozialer Rechte. Die soziale Frage ist sehr wenig adressiert im Grundgesetz.

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Das Grundgesetz ist nicht sozial?

Anna Katharina Mangold: Man kann natürlich aus manchen Normen, wie etwa dem Sozialstaatsprinzip, Honig saugen. Aber eine Verankerung von sozialen Grundrechten, wie wir sie aus vielen Landesverfassungen kennen, die hat das Grundgesetz nicht. Das führt zu einer einseitigen Unterstreichung der Freiheitsrechte und einer Abwertung der Gleichheitsrechte. Denn in den Gleichheitsrechten gibt es in Absatz 3 auch ein Verbot, wegen der Herkunft zu benachteiligen. Das könnte man und hätte man damals auch so verstehen können, dass es die sozioökonomische Herkunft meint. Im Vergleich mit anderen westeuropäischen Demokratien wird sichtbar, dass Deutschland eine ausgesprochen klassistische Gesellschaft ist, in der die Herkunft und vor allem der Bildungshintergrund der Elterngeneration maßgeblich dafür sind, welche Bildungserfolge Menschen haben. Bildungserfolge schlagen sich wiederum in den Erwerbschancen nieder. Wenn wir sehen, wie sich Erbschaften entwickeln, dann beobachten wir eine krasse Akkumulation von Vermögen bei einigen wenigen.

Wie sollte das Grundgesetz das regeln?

Anna Katharina Mangold: Die soziale Frage ist aus meiner Sicht vollkommen ungenügend gelöst im Grundgesetz. Man müsste dieses entweder viel innovativer interpretieren oder aber nochmal darüber nachdenken, ob das Grundgesetz wirklich der letzte Stand der Dinge ist, den wir unbedingt so beibehalten müssen.


„Man kann argumentieren, dass nicht mehr viel übrig geblieben ist von dem grundsätzlich breiten Versprechen, politisch Verfolgten Asyl zu gewähren.“
Anna Katharina Mangold

Ruhen wir uns also zu sehr aus auf dem Grundgesetz? Müssen wir es modernisieren?

Anna Katharina Mangold: Bislang erstreckt sich die Innovativität des Bundesverfassungsgerichts, die ohne Zweifel zu beobachten ist, kaum auf soziale Fragen. Die letzte Innovation in diesem Bereich bestand darin, dass das Bundesverfassungsgericht gesagt hat, die Menschenwürde sei migrationspolitisch nicht zu relativieren. Die Menschenwürde müsse also auch geflohenen Menschen zukommen. Das ist absolut richtig. Aber wo das Verfassungsgericht zurückgesteckt hat, ist bei den Sozialleistungen. Hier hat das Gericht keine ähnlich klare Grenze gezogen. Die Hartz-IV-Rechtsprechung, besonders die letzte zu den Kürzungen und Sanktionen, hat mich gar nicht überzeugt, weil hier angenommen wird, das menschenwürdige Existenzminimum könne noch einmal reduziert werden. Auch wird weiterhin akzeptiert, dass es unterschiedliche Regime für geflohene Menschen und nicht geflohene Menschen gibt. Das sind schon erstaunliche Konstruktionen, die meines Erachtens widerspiegeln, dass die soziale Frage im Grundgesetz nicht richtig ausbuchstabiert ist und deshalb selbst der imaginativsten Interpretation des Grundgesetzes Grenzen gesetzt sind.

Da Sie geflohene Menschen angesprochen haben: Wie sieht es denn aus mit dem Anspruch von Artikel 16a "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" - ist das auch ein Fall, in dem die Norm nur auf dem Papier, aber nicht in der Realität standhält?

Anna Katharina Mangold: Auch da hat mich die Formulierung schon immer rätselnd zurückgelassen. Es hat ewig gedauert, zu sehen, dass es auch eine dauerhafte Verfolgung von Frauen wegen ihres Geschlechts geben kann in bestimmten politischen Systemen. Ist das eine politische Verfolgung? Man denke an den Iran. Das ist bislang nicht so anerkannt worden. Da finde ich es schon sehr schwierig, die Abgrenzungen nachzuvollziehen, was politisch sein soll und was nicht.

Also auch bei Artikel 16a gilt: Die formale Bedeutung ist eine andere als die faktische?

Anna Katharina Mangold: Wir haben seit den 1990er Jahren, und das hing mit dem Konflikt auf dem Balkan zusammen, davon Abstand genommen, diesem Grundsatz überhaupt noch Rechnung zu tragen, weil wir ja die Drittstaatenregelung eingeführt haben. Wenn Menschen über einen sicheren Drittstaat eingereist sind, dann brauchen wir ihnen gar kein Asyl zu gewähren. Ich kann zudem überhaupt nicht verstehen, warum so stark differenziert wird zwischen unterschiedlichen Gründen, aus denen Menschen sich auf die Flucht begeben. Wenn man zugrunde legt, dass die meisten Menschen lieber bei ihren Familienmitgliedern in der Heimat bleiben wollen und sich nur auf den Weg machen, wenn wirklich keine anderen Möglichkeit existiert, dann überzeugt mich die starke Unterscheidung zwischen politischer Verfolgung einerseits und Flucht aus sogenannten ökonomischen Gründen andererseits nicht. Die Leute wollen einfach nicht verhungern. Wenn man sich Artikel 16a durchliest, dann liest man eine Version, die 1993 verändert wurde. Da ist eben schon ganz, ganz viel weggenommen worden, und man kann argumentieren, dass nicht mehr viel übrig geblieben ist von dem grundsätzlich breiten Versprechen, politisch Verfolgten Asyl zu gewähren.


„Im Prinzip haben wir eine Verfassung in Deutschland, die sich als entwicklungsoffen dargestellt hat.“
Anna Katharina Mangold

Also können wir uns mitnichten auf den Errungenschaften des Grundgesetzes ausruhen?

Anna Katharina Mangold: Wie gesagt, bei Artikel 16a ist viel am Text geändert worden, um den Anspruch herunterzuschrauben. Aber wie ich für Artikel 3 Absatz 2 ausführte: Es gab auch viele, viele Erfolge und Fortschritte. Man darf nicht vergessen, dass wir seit 1949 ein sehr stabiles Staatswesen haben, das durch viele Krisen hindurch gegangen ist und das uns ein sicheres und wohlhabendes Leben ermöglicht. Wir haben stabile Staatsgewalten, wir haben eine unabhängige Justiz, wir haben funktionierende Polizei, die nicht durch und durch korrupt ist, wenn man auch manche Auswüchse wie etwa den Rassismus kritisieren kann. Wir haben ein funktionierendes Wahlsystem, in dem tatsächliche Alternativen gewählt werden können. Wir haben ein sehr intensives Rechtsschutzsystem und Gerichte, die unabhängig sind und wie das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte wahren. Gleichzeitig ist Deutschland Mitglied der Europäischen Union und bemüht sich, die demokratische Idee in die Welt zu tragen.

Also können wir doch auch ein wenig stolz sein auf das Grundgesetz?

Anna Katharina Mangold: Im Prinzip haben wir eine Verfassung in Deutschland, die sich als entwicklungsoffen dargestellt hat. Die vom Bundesverfassungsgericht weiterentwickelt wird, das immer neue Grundrechte entdeckt, die es vorher nicht gab. Es gab 1949 nicht die Notwendigkeit, die Integrität von privaten Computersystemen zu schützen. Es gab nicht die Gefahr einer Komplettüberwachung durch Spähsoftware. Das sind technische Entwicklungen, die dazugekommen sind. Ich glaube, was 1949 vor Augen stand, war eine freiheitliche, pluralistische Demokratie, ein Bundesstaat, der auch soziale Elemente verwirklicht, wobei das wirklich am wenigsten im Vordergrund stand. Aber das Grundgesetz hat sich als so flexibel erwiesen, dass es uns auch heute noch etwas sagt, und ich glaube, dass ist auf jeden Fall ein Erfolg. Wir haben kein Grundgesetz, das vollkommen in Stein gemeißelt erscheint, wie das etwa für die US-Verfassung gilt, die kaum noch geändert werden kann. Ich würde sagen, das Grundgesetz hat insgesamt einen guten Job gemacht. Ich möchte vor allem betonen, dass wir seit 1949 ein funktionierendes parlamentarisches System haben. Dass wir friedliche Machtübergaben haben, das muss man sich gerade jetzt wieder vor Augen führen. Das ist nicht wenig.

Foto: Europa-Universität Flensburg
Zur Person
Anna Katharina Mangold, Jahrgang 1977, hat seit April 2019 die Professur für Europa- und Völkerrecht an der Europa-Universität Flensburg inne. Mangold studierte Rechtswissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und habilitierte 2016 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main zum Thema "Demokratische Inklusion durch Recht. Antidiskriminierungsrecht als Ermöglichungsbedingung der demokratischen Begegnung von Freien und Gleichen." Seit April 2022 ist sie zudem Mitglied in der Berliner Expertenkommission "Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen".
Foto: Europa-Universität Flensburg