Interview : "Zeichen nicht erkannt"
Die SPD-Fraktionsvize, Gabriela Heinrich, über Versäumnisse in der Russlandpolitik und die Chancen auf Verhandlungslösungen im Ukrainekrieg.
Frau Heinrich, vor einem Jahr hat Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen, seither ist hierzulande viel passiert: Deutschland legt zu bei der Verteidigung, unterstützt die Ukraine, liefert Waffen in ein Konfliktgebiet, löst sich von russischer Energieabhängigkeit. Wäre eine solche Zeitenwende nicht schon 2014 angemessen gewesen?
Gabriela Heinrich: Deutschland hat die Anzeichen nicht rechtzeitig erkannt. Spätestens 2014 mit der Besetzung der Krim hätte sich die Politik sehr viel stärker damit beschäftigen müssen, in welche Richtung insbesondere der russische Präsident Wladimir Putin sein Land steuert. Das sage ich nicht nur mit Blick etwa auf das Gaspipeline-Projekt Nord Stream 2, sondern auch auf die Kohärenz der Außenpolitik und zum Beispiel auch auf unser Verhältnis zum globalen Süden. Hier hätten wir früher die Wichtigkeit von belastbaren Partnerschaften erkennen können.
Gabriela Heinrich ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD. Sie ist unter anderem für Außenpolitik zuständig.
Frieden in Europa nur mit Russland, Wandel durch Annäherung, Gesprächskanäle offenhalten, daran hat die SPD länger als andere festgehalten. Ist die Zeitenwende, von der Bundeskanzler Olaf Scholz vor einem Jahr sprach, insbesondere eine Zäsur für Ihre Partei?
Gabriela Heinrich: Es ist eine Zeitenwende für die SPD. Andere Parteien betrifft das aber genauso. Ich schätze sehr, dass wir als SPD sofort nach dem 24. Februar 2022, dem Angriff Russlands auf die Ukraine, und der historischen Rede des Kanzlers umgesteuert und angefangen haben, uns intensiv mit den Facetten der Zeitenwende zu beschäftigen: Was bedeutet sie für unsere Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik, für unser Verhältnis zu China, für Europa und die Rolle, die Deutschland darin einnimmt.
Verteidigungsminister Boris Pistorius möchte dauerhaft mehr Geld für die Bundeswehr, aus der SPD gibt es aber auch Rufe nach anderen Prioritäten: Soziales, Entwicklung, Zivilschutz. Ist das ein Ringen um begrenzte Haushaltsmittel oder geht es hier um Prinzipielles?
Gabriela Heinrich: Im Grunde sind sich Verteidigungsminister Boris Pistorius und Entwicklungsministerin Svenja Schulze einig, dass es nicht ausreicht, mehr Geld nur für die Bundeswehr bereitzustellen. Genauso wichtig ist es, zusätzliche Mittel für Entwicklung, gerade auch für Konfliktprävention und humanitäre Hilfe aufzubringen. Die Herausforderung besteht darin, in der Zeitenwende das umzusetzen, was wir uns als Fortschrittskoalition vorgenommen haben. Auf der anderen Seite sind wir an einem Punkt, an dem wir wissen, dass wir dafür nicht aus dem Vollen schöpfen können. Wenn wir als Koalition das Land zusammenhalten wollen, brauchen wir auch Mittel für Soziales, Klimapolitik, Energiesicherheit und für Infrastruktur. Es ist ein Ringen. Aber ich vernehme nicht, dass jemand anzweifelt, die Bundeswehr gut auszustatten.
Stärker als die Koalitionspartner möchte die SPD die Türen für diplomatische Lösungen mit Russland offenhalten. Gibt es überhaupt eine echte Chance auf Verhandlungen?
Gabriela Heinrich: Diplomatie bedeutet auch über Getreidelieferungen aus der Ukraine zu verhandeln, über Gefangenenaustausche und die Sicherheit von Atomkraftwerken im Kriegsgebiet. All das hat bereits stattgefunden und wird fortgeführt. Deutschland unterstützt die Ukraine in ihrem Recht auf Selbstverteidigung nicht nur militärisch, etwa mit der Lieferung von Kampfpanzern, sondern weit umfassender, nämlich finanziell, humanitär und beim schrittweisen Wiederaufbau. Dass der Bundeskanzler nach China gereist ist und die chinesische Führung im Ergebnis des Treffens deutliche Worte gefunden hat und heute nukleare Drohungen aus Russland zurückweist, ist eine wirklich erfolgreiche diplomatische Initiative.
Aber Verhandlungen über einen Waffenstillstand gibt es offenbar seit vergangenen Frühjahr nicht mehr.
Gabriela Heinrich: Den meisten ist klar, dass der russische Präsident derzeit nicht verhandeln will. Ebenso ist es die souveräne Entscheidung der Ukraine, ob sie in Verhandlungen tritt. Es wird einen Zeitpunkt geben, an dem Putin versteht, dass er seine Kriegsziele in der Ukraine nicht erreichen kann. So lange müssen die Unterstützer der Ukraine zusammenstehen und klarmachen, dass Russland diesen Krieg beenden muss.
Ist das eigentlich Putins Krieg? Oder verfängt zuhause seine Erzählung vom "kollektiven Westen", der Russland spalten wolle?
Gabriela Heinrich: In Teilen der russischen Bevölkerung verfängt das. Dies ist auch der Propaganda in Russland geschuldet. Ich würde heute nicht mehr nur von Putins Krieg sprechen. Der Krieg ist ins Bewusstsein der Bevölkerung getreten. Leider unterstützen sehr viele Russinnen und Russen diesen Krieg zumindest offiziell. Den in Russland veröffentlichten Umfragen würde ich trotzdem nicht allzu viel Wert beimessen. Auch darf man nicht vergessen: Es gibt viele mutige Menschen in Russland, die sich gegen den Angriff Putins stellen. Das ist extrem gefährlich, horrende Strafen werden dafür verhängt. Andere sind in Nachbarländer wie Armenien und Georgien geflohen. Dazu kommen die Berichte über Deserteure in der russischen Armee.
Russland hat angekündigt, mit "New START" den letzten verbliebenen nuklearen Kontrollvertrag zu suspendieren. Droht ein neues atomares Wettrüsten?
Gabriela Heinrich: Die Gefahr besteht, dass Russland atomar aufrüstet. Es war allerdings schon vor der russischen Ankündigung kaum mehr möglich, den Vertrag zu erfüllen. Die vereinbarten wechselseitigen Beobachtungsmissionen zwischen den USA und Russland fanden aufgrund der russischen Verzögerungstaktik nicht mehr statt. Das Abkommen endet laut Plan 2026. Wir müssen abwarten, ob es gelingt, wieder in neue Verhandlungen zu treten. Entscheidend dafür ist, wie lange der Krieg in der Ukraine dauert. Auch hier braucht es die Diplomatie als Mittel der Wahl, um ein nukleares Wettrüsten zu verhindern.
Der damalige US-Präsident Donald Trump stand bereits kurz davor, das transatlantische Verteidigungsbündnis aufzukündigen. Muss Europa mehr für die eigene Sicherheit tun?
Gabriela Heinrich: Ja. Das geht allerdings nicht von heute auf morgen. Es gibt bereits gemeinsame Rüstungsprojekte, als Fernziel ist von manchem sogar die Rede von der Vision einer europäischen Armee. Dass der Kanzler bei der Entscheidung über die Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine die USA mit ins Boot geholt hat, war extrem wichtig. Russlands Krieg führt uns dramatisch vor Augen, dass die Nato kein Auslaufmodell und wichtiger denn je für unsere Sicherheit ist. Deshalb müssen wir ihre europäische Flanke stärken. Mein Eindruck ist, dass das viele in Europa verstanden haben. Perspektivisch wird das mit dem hoffentlich zügigen Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens auch gelingen.
Der Satz von Egon Bahr, wonach die USA für uns unverzichtbar, Russland aber unverrückbar ist, gilt der weiter?
Gabriela Heinrich: Russland ist unverrückbar. Deshalb ist es schwierig, so strikt davon auszugehen, auf sehr lange Sicht Sicherheit nur gegen Russland zu organisieren - auch wenn dieser Ansatz im Augenblick der einzig Richtige ist. Russland wird nicht von der Landkarte verschwinden. Wenn dieser Krieg beendet ist, werden wir versuchen müssen, wieder eine Ebene mit Russland zu finden. Er richtet unglaubliche Zerstörung in der Ukraine an und lässt viele Menschen traumatisiert zurück. Die Vielzahl an schweren Kriegs- und Menschenrechtsverletzungen müssen aufgeklärt und aufgearbeitet werden. Es wird viele Jahre dauern, einen nachhaltigen Frieden in der Region zu organisieren. Der Ukraine und der Unterstützung durch die Weltgemeinschaft steht ein langer und steiniger Weg bevor.