Ukraine : "Kein Friedensschluss über die Köpfe der Ukrainer hinweg"
Bundeskanzler Olaf Scholz sagt der Ukraine weitere Waffenlieferungen zu - und erteilt einem "Diktatfrieden" eine Absage.
Es ist dieser eine Satz von Olaf Scholz (SPD), bei dem für einen Moment der Geist von Winston Churchill durch den Plenarsaal zu wehen scheint: "Mit der Waffe an der Schläfe lässt sich nicht verhandeln - außer über die eigene Kapitulation." Der britische Premierminister hatte einst Verhandlungen mit Nazi-Deutschland mit den Worten, man könne mit einem Tiger nicht mit dem Kopf in seinem Maul verhandeln, eine Abfuhr erteilt.
An der "Wand der Erinnerung" in Kiew wird der Gefallenen der Ukraine in dem Konflikt seit 2014 gedacht.
Ein Jahr nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und seiner "Zeitenwende"-Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 zieht sich dieses Diktum am vergangenen Donnerstag wie ein roter Faden durch die Regierungserklärung des Bundeskanzlers - in verschiedenen Variationen. Es könne "keinen Friedensschluss über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg geben" und ein "Diktatfrieden" gegen den Willen der Opfer verbiete sich nicht nur aus moralischen Gründen, "sondern auch, wenn wir das Wohl unser eigenen Landes und die Sicherheit Europas und der Welt im Auge haben", stellt Scholz klar. Und: "Würde die Ukraine aufhören, sich zu verteidigen, dann wäre das kein Frieden, sondern das Ende der Ukraine."
Keine gewaltsame Verschiebung von Grenzen
Scholz zeigt in seiner Regierungserklärung noch einmal die seit einem Jahr geltenden Leitplanken seiner Politik auf: Die Ukraine wird weiterhin mit Waffen unterstützt, "solange dies nötig ist" und "in enger Abstimmung mit unseren Partnern". Eine gewaltsame Verschiebung von Grenzen in Europa wird nicht hingenommen. Die Nato wird aber "nicht zur Kriegspartei".
Scholz ist für diese Aussagen der Applaus nicht nur aus den Reihen der eigenen Koalition aus SPD, Grünen und FDP sicher, sondern auch von der Union. Lediglich die AfD- und die Linksfraktion sprechen sich erneut gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aus und fordern diplomatische Verhandlungen mit Russland: Weil dies "nicht unser Krieg ist" und die Diplomatie "in diesem Krieg immer die erste Formel" sein müsse, wie AfD-Fraktionschef Tino Chrupalla meint, oder weil Waffenlieferungen eben keine Menschenleben retten würden, wie Dietmar Bartsch, Co-Vorsitzender der Linksfraktion, ausführt. Bartsch stellt allerdings auch klar, dass Verhandlungen "nicht über die Köpfe der Ukrainer" geführt werden dürften. Es brauche eine europäische Friedensinitiative.
Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich hält dagegen, dass Diplomatie nicht Verhandlungen mit Russlands Präsident Wladimir Putin bedeute, sondern ihm die Eskalationsmöglichkeiten zu nehmen. Deswegen sei es gut, dass auch China sage, dass das "nukleare Tabu" erhalten bleiben muss.
Die Rede von Friedrich Merz (CDU) hingegen klingt in weiten Teilen kaum anders als die von Scholz. Scharfe Kritik übt der Unionsfraktionsvorsitzende ebenso wie die Grünen-Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann und FDP-Fraktionschef Christian Dürr dafür an der AfD und vor allem an der von Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht mit initiierten Petition und Demonstration gegen Waffenlieferungen und für Friedensverhandlungen. In "bizarrer Gemeinsamkeit" würden Vertreter von "ganz links und ganz rechts" Täter und Opfer im Ukraine-Krieg verwechseln, führte Merz an. Dies sei "zynisch" und "menschenverachtend". Die Gegner von Waffenlieferungen an die Ukraine würden die Augen verschließen vor Tod, Flucht und Vertreibung in der Ukraine, vor den systematischen Vergewaltigungen ukrainischer Frauen und Verschleppung ukrainischer Kinder, attestiert Britta Haßelmann. Und Christian Dürr fordert die Linksfraktion auf, sich von Wagenknecht loszusagen. Es sei zudem eine "Märchenerzählung", dass Deutschland die Ukraine nur militärisch unterstütze. Deutschland helfe der Ukraine finanziell, im Justizbereich und bei der Dokumentation von Kriegsverbrechen.
Union pocht auf Einhalt des Zwei-Prozent-Versprechens
Doch auch wenn sich der Kanzler und die Ampelkoalition mit der Union in ihren grundlegenden außenpolitischen Positionen im Krieg Russlands gegen die Ukraine einig sind, so muss sich Scholz dennoch eine Menge Kritik von Merz anhören: Der Kanzler habe sein Versprechen, gemäß der Nato-Vereinbarung zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes für Verteidigung aufzubringen, nicht eingehalten. "Wir entfernen uns von diesem Ziel." So sei der Verteidigungshaushalt in diesem Jahr gegenüber 2022 um 300 Millionen gekürzt worden. Und das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für Rüstungsprojekte der Bundeswehr werde nur schleppend umgesetzt. Bislang seien lediglich 600 Millionen Euro ausgegeben worden, rechnet Merz vor.
Die SPD-Fraktionsvize, Gabriela Heinrich, über Versäumnisse in der Russlandpolitik und die Chancen auf Verhandlungslösungen im Ukrainekrieg.
Sollten die Ausgaben für Verteidigung dauerhaft erhöht werden? Darüber streiten Richard Herzinger und Stephan Hebel.
Die Truppe steht trotz Sondervermögen nicht besser da als zu Beginn des russischen Angriffskrieges.
Bundeskanzler Scholz betont vor dem Parlament zwar, dass seine Zusage bezüglich höherer Verteidigungsausgaben weiterhin gelte, aber konkreter wird er kaum. Ein Großteil des Sondervermögens für Rüstungsprojekte werde "noch in diesem Jahr unter Vertrag" und die Nachbeschaffung der an die Ukraine gelieferten Waffen und Munition aus Beständen der Bundeswehr werde in den kommenden Monaten "unter Dach und Fach" gebracht. Auf die aktuellen Forderungen von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), den regulären Verteidigungshaushalt um zehn Milliarden Euro zu erhöhen, und dessen Aussage, die Bundeswehr sei "nicht verteidigungsfähig", geht Scholz an diesem Donnerstag nicht ein.