Historisch bedeutsame Debatten : Die Kraft der Worte
Die meisten Debatten im Bundestag verschwinden im Protokoll. Aber es gibt beeindruckende Ausnahmen, die für Stille oder Empörung sorgten oder das Land aufrüttelten.
Die lange Regierungszeit Angela Merkels im Bündnis mit den Sozialdemokraten und, etwas kürzer, mit den Liberalen, weckte bei Politik-Interessierten mitunter eine Sehnsucht nach den 1960er und 1970er Jahren. Vermissten doch nicht wenige den Streit für Argumente, Ideen und auch Visionen in der 2005 beginnenden 16-jährigen Kanzlerschaft Merkels. "Der Regierungsapparat verlautbart. Es spricht die Behörde", beschrieb der Publizist Roger Willemsen in seinem Buch “Das Hohe Haus” den Stil der Ex-Kanzlerin.
Hatte die Debattenkultur in der Bonner Republik mehr Glanz?
Im Vergleich dazu erschien die Debattenkultur der Bonner Republik vielen in einem neuen Glanz: als angriffslustiger, lebhafter und dadurch insgesamt interessanter. Das lag zum einen an den Themen und vielen Grundsatzentscheidungen, die nicht nur das Selbstverständnis der noch jungen Bundesrepublik im Kern berührten, sondern auch das ihrer politischen Repräsentanten. In den zum Teil mehrtägigen Wortgefechten, wie etwa zur Wiederbewaffnung der Bundesrepublik (1952), zur Verjährung von NS-Verbrechen (1965), zur Ostpolitik des ersten SPD-Kanzlers Willy Brandt (1972) oder in den Debatten zum NATO-Doppelbeschluss (1981), spiegelten sich die Haltung und Biografien von Politikern wie Konrad Adenauer, Herbert Wehner, Franz Josef Strauß, Willy Brandt und Helmut Kohl wider.
"Tag der Befreiung": Die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes wurde anschließend in 13 Sprachen übersetzt.
In einer guten Rede komme der Mensch, der sie hält, zum Vorschein, mit seiner Leidenschaft und seinen Idealen, heißt es oft. Dass diese Leidenschaft mitunter in persönliche Angriffe, Entgleisungen abdriftete, dafür gibt es viele Beispiele aus den Jahren der Bonner Republik.
Wutausbruch aus dem Bilderbuch
Legendär sind etwa die Rededuelle zwischen dem wortgewaltigen CSU-Politiker Franz Josef Strauß und Herbert Wehner. Wehners Wutausbrüche waren berühmt-berüchtigt. Das SPD-Urgestein musste sich jahrzehntelang seine kommunistische Vergangenheit von der Union vorwerfen lassen und nicht nur einmal platzte ihm deshalb der Kragen. Unter anderem in einer Debatte zur Inneren Sicherheit und zum RAF-Terror am 13. März 1975: "Wer einmal Kommunist war, den verfolgt Ihre gesittete Gesellschaft bis zum Lebensende, und wenn es geht, lässt sie ihn auch noch durch Terroristen umbringen. Das weiß ich, das ist so, und deswegen habe ich damals Kurt Schumacher (ehemaliger SPD-Vorsitzender, Anm. d. Red.) gesagt: Die werden mir noch die Haut vom lebendigen Leibe abziehen", schrie der SPD-Fraktionschef in Richtung CDU/CSU.
Daraufhin verließ diese empört den Plenarsaal, aber nicht kommentarlos: "Bolschewist! Pfui, Deibel, Sie Kommunist!" Wehner kommentierte das bissig: "Das ist der Nachteil derer, die rausgehen, sie müssen wieder reinkommen. Ich sage Ihnen Prost, weil sie wahrscheinlich da (Bundestagskantine, damals noch mit Alkoholausschank, Anm. d. Red.) hingehen." Unterhaltsam war diese Auseinandersetzung auf jeden Fall, aber als "Sternstunde" des Parlamentarismus ging sie nicht in die Geschichte sein, sondern als einer seiner berühmtesten Eklats.
5. Mai 1983: Als das Bundestagsplenum einem Tollhaus glich
Dazu gehört auch die erste Rede von Waltraud Schoppe im Bundestag am 5. Mai 1983. Ihre Fraktion Die Grünen war gerade neu in den Bundestag eingezogen, das allein wirbelte den politischen Betrieb (auch ästhetisch) gehörig durcheinander. Als Schoppe dann aber ein Verbot von Vergewaltigung in der Ehe forderte, zur Einstellung des "alltäglichen Sexismus hier im Parlament" aufrief und Formen des lustvollen schwangerschaftsverhütenden Liebesspiels empfahl, glich der Bundestag einem Tollhaus. Selten fielen in dem männerdominierten Plenum obszönere Zwischenrufe. "Ich merke, ich habe das Richtige gesagt. Sie sind getroffen", ließ sich Schoppe nicht beirren. Ihre Rede war eine Zäsur, vor allem für das Selbstbewusstsein der Frauen. Noch Jahre später war sie Gesprächsthema in Bonn.
Doch um Aufsehen zu erregen, braucht es nicht immer Provokation oder eine Abstimmung ohne Fraktionszwang, die dann, als Gewissensentscheidung (etwa zur Sterbehilfe oder Ehe für Alle), eine weniger vorhersehbare Diskussion ermöglicht. Mitunter schafft es auch eine einzelne (auch staatstragende) Rede, eine gesellschaftliche Wirkungsmacht aufgrund ihres visionären Charakters zu entfalten.
Als Willy Brandt “mehr Demokratie wagen” wollte
Eine solche Rede hielt der neu gewählte Bundeskanzler Willy Brandt am 28.Oktober 1969 vor dem Bundestag. Zum ersten Mal regierte nun nicht ein CDU-Kanzler das Land, das immer noch unter dem Eindruck der Studentenrevolte von 1968 stand und eine Antwort darauf suchte. Es müsse darum gehen, das Land so weiterzuentwickeln, "dass sein Rang in der Welt von morgen anerkannt wird". Nicht weniger als eine neue politische Philosophie kündigte Brandt mit den folgenden Sätzen an: “In den 70er Jahren werden wir aber in diesem Land nur so viel Ordnung haben, wie wir an Mitverantwortung ermutigen. Solche demokratische Ordnung braucht außerordentliche Geduld im Zuhören und außerordentliche Anstrengung, sich gegenseitig zu verstehen. Wir wollen mehr Demokratie wagen.”
Gemeint waren damit mehr Mitbestimmung und Teilhabe auf allen gesellschaftlichen Ebenen: In den nächsten Jahren wurde das aktive und passive Wahlalter auf 18 Jahre gesenkt. Betriebs- und Personalräte erhielten mehr Mitbestimmungsrechte. Das Bundesausbildungsförderungsgesetz öffnete breiten Schichten den Zugang zu Abitur und Studium. Durch den Ausbau der Sozialversicherung erhielten viele Bürgerinnen und Bürger mehr Schutz bei Krankheit und höhere Renten. Ein ehrgeiziges, aber teures Reformprogramm, das die Regierung nach einer sich verschlechternden Konjunktur schon bald vor große Probleme stellte. Und dennoch: Die von Brandt, dem späteren Friedensnobelpreisträger, angekündigte Liberalisierung der Gesellschaft war nicht mehr zu aufzuhalten.
Weltweite Beachtung: Bundespräsident von Weizsäcker über den Tag der Befreiung
Auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU) schaffte es mit seiner Rede vom 8. Mai 1985 in die Geschichtsbücher. An das Ende des Zweiten Weltkriegs war im Bundestag schon mehrfach erinnert worden. Doch als Weizsäcker den Holocaust vom Rednerpult des deutschen Parlaments aus als 'beispiellos in der Geschichte' bezeichnete, machte das seine Rede außergewöhnlich. Er schloss erstmals zuvor marginalisierte Gruppen in das Gedenken ein und würdigte nicht nur den bürgerlichen Widerstand gegen Hitler, sondern auch den sozialdemokratischen und kommunistischen. Indem er appellierte, "wir alle, ob jung oder alt, schuldig oder nicht, müssen die Vergangenheit annehmen", ebnete er den Weg zu einer neuen Akzeptanzkultur.
Weltweit Beachtung fand, dass ein deutsches Staatsoberhaupt den 8. Mai 1945 als "Tag der Befreiung" bezeichnete: "Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft." Damit hob sich der Bundespräsident klar vom Denken der Nachkriegszeit ab. Zwei Millionen Exemplare des Redemanuskripts wurden wegen der hohen Nachfrage im Anschluss gedruckt. Es wurde in 13 Sprachen übersetzt. Israel lud Weizsäcker daraufhin zum ersten Staatsbesuch eines Bundespräsidenten in das Land ein.
Wie Innenminister Wolfgang Schäuble die Wende für Berlin beschwor
Ein parlamentarisches Kunststück ganz anderer Art gelang Wolfgang Schäuble am 20. Juni 1991. Die Abgeordneten des Bundestages sollten endlich einen Schlusspunkt unter die schon ein Jahr dauernde Diskussion um den künftigen Sitz von Regierung und Parlament des wiedervereinigten Deutschland setzen: Bonn oder Berlin? "Jeder wollte sich zu diesem emotional umkämpften Thema äußern", erinnerte sich Wolfgang Thierse (SPD), später selbst Bundestagspräsident. Zwei Stunden dauerte die Debatte schon, als Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) ans Rednerpult kam, sein Manuskript zur Seite legte und die Parlamentarier an Folgendes erinnerte: "Teilen heißt, die Veränderungen miteinander zu tragen, die sich durch die deutsche Einheit ergeben. Es kann auch in den 'alten' Ländern nicht alles so bleiben, wie es war, auch nicht in Bonn und im Rheinland." In 40 Jahren habe niemand Zweifel gehabt, dass bei einer Einheit Deutschlands Parlament und Regierung ihren Sitz wieder in Berlin haben werden. Deshalb sei es nun eine Frage der Glaubwürdigkeit, dies auch umzusetzen, sagte Schäuble. Die Rede wurden von Beobachtern als Wendepunkt der Debatte betrachtet: Nach 12 Stunden und mit nur 18 Stimmen Vorsprung entschied sich der Bundestag damals für Berlin.
Unter der Reichstagskuppel zeigt sich aber auch: Man muss gar kein begnadeter Redner sein, um historische Begriffe zu kreieren. Es reicht, zur richtigen Zeit die richtigen Worte zu finden, so wie es Bundeskanzler Olaf Scholz mit seiner "Zeitenwende"-Rede nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 offenbar gelungen ist.