Interview zur Debattenkultur : "Je persönlicher ein Redner wird, desto stärker wirkt er"
Die Redenschreiberin Jacqueline Schäfer über die Debattenkultur im Bundestag, unterschiedliche Redestile von Männern und Frauen und die Merkmale einer guten Rede.
Frau Schäfer, seit 1949 wurden abertausende Reden im Bundestag gehalten. Was macht eine gute Rede aus?
Jacqueline Schäfer: Das hängt stark von der Perspektive ab. Als Zuhörer möchte ich etwas mitnehmen, wenn ich Zeit erübrige, mir eine Rede anzuhören. Ich möchte etwas Neues erfahren oder zumindest durch einen intelligenten Gedankengang angeregt oder durch schöne Formulierungen erfreut werden. Als Redner hingegen ist eine Rede dann erfolgreich, wenn ich damit etwas bewirken kann. Zum Beispiel, indem ich Menschen überzeuge. Oder nehmen wir beispielsweise ein heikles Thema, bei dem diplomatische Verhandlungen noch im Gange sind. In solchen Fällen kann es wichtig sein, beruhigend zu wirken, ohne alle Informationen preiszugeben. Manchmal muss man den Zuhörern vermitteln, dass etwas in Bewegung ist, um Zeit zu gewinnen und im Hintergrund weiterarbeiten zu können.
Gibt es bestimmte rhetorische Mittel, die auf das Publikum besonders überzeugend wirken?
Jacqueline Schäfer: Eine wirkungsvolle Rede ist ein Zusammenspiel aus einzelnen Formulierungen und der Art des Vortrags. Ein Beispiel: Der Bundeskanzler nutzt oft Formulierungen wie "Wir müssen Sorge tragen, dass, ..." oder "Wir müssen darauf hinarbeiten, dass ...". Solche Sätze klingen fürsorglich, vermitteln aber wenig Konkretes. Das kann durchaus eine Taktik sein, um sich nicht festzulegen, bevor alles klar ist, oder um unangenehme Diskussionen zu vermeiden. Diese Taktik nutzte auch Angela Merkel. Oft geht es in Debatten im Bundestag darum, Themen zu besprechen, bei denen noch nicht alles entschieden ist - gerade, wenn es innerhalb der Koalition noch Uneinigkeiten gibt. Das erleben wir derzeit täglich. Aber generell gilt, je persönlicher ein Redner wird, desto stärker wirkt er. Ein gutes Beispiel war Angela Merkel während der Corona-Pandemie, als sie vor Weihnachten für einen verlängerten Lockdown plädierte. Ihre Emotionen und die persönliche Note ihrer Rede hinterließen einen bleibenden Eindruck.
Sie haben gerade Ähnlichkeiten in der Redeart von Angela Merkel und Olaf Scholz angesprochen. Gibt es generell Unterschiede im Redestil von Männern und Frauen?
Jacqueline Schäfer: Pauschalisierungen sind schwierig, aber es fällt auf, dass Frauen, wenn sie emotional werden, oft dafür kritisiert werden, während Männer für dieselbe Emotionalität gelobt werden. Das führt dazu, dass Frauen oft versuchen, sich zurückzunehmen. Dennoch ist es wichtig, auch in Sachdebatten Gefühle zu transportieren, um Menschen zu erreichen. Robert Habeck beherrscht das hervorragend, indem er erklärt und gleichzeitig respektvoll mit Andersdenkenden umgeht. Diese Art des Erklärens, die Respekt und Sachlichkeit miteinander verbindet, ist etwas, von dem viele Politiker lernen könnten.
Viele Abgeordnete beklagen, dass der Ton im Bundestag rauer geworden ist. Wie äußert sich das?
Jacqueline Schäfer: Der raue Ton zeigt sich vor allem in der Pauschalisierung und Verachtung, die in manchen Reden mitschwingt. Wenn zum Beispiel von "Messermännern" und "Kopftuchmädchen" gesprochen wird, steckt dahinter eine gezielte Provokation, die keine Differenzierung zulässt. Besonders problematisch ist der aggressive Ton, der oft in die politische Debatte einfließt. In welchem Ton etwas vorgetragen wird, ist entscheidend. Immer wieder wird im Plenum fast geschrien, da ist Verachtung in jeder Silbe drin. Das ist gefährlich, denn Sprache hat eine immense Macht und kann Haltung und Handlungen der Menschen prägen. Auch wird zunehmend deutlich, dass Tabubrüche in politischen Reden bewusst eingesetzt werden, um Aufmerksamkeit zu erregen, nur um dann im nächsten Satz scheinbar relativiert zu werden. In der öffentlichen Wahrnehmung aber bleibt meist nur die provokante Formulierung hängen und nicht der gesamte Kontext.
War die Redekultur im Bundestag früher tatsächlich anders?
Jacqueline Schäfer: Es wird gerne so getan, als sei früher alles viel besser gewesen, die Debatten kultivierter. Das ist ein Mythos. Schon im Wahlkampf zur ersten Bundestagswahl gab es harte Attacken. Schumacher hat Adenauer beispielsweise als "Lügenauer" bezichtigt. Ein Herbert Wehner hat seine Kollegen im Bundestag ad hominem angegriffen: Er sprach von Todenhöfer als "Hodentöter" und hat Rainer Barzel als "Schleimer" bezeichnet. Trotzdem genoss Wehner großes Ansehen. Auch Politiker wie Franz Josef Strauß und Helmut Schmidt teilten kräftig aus. Trotz dieser Härte galten sie als brillante Redner, weil sie schnell im Kopf waren und ihre Argumente teils originell vorbrachten. Und sie waren gebildet. Zudem einte sie die Erfahrung, als junge Männer den Zweiten Weltkrieg erlebt zu haben. Das schuf eine tiefe Verantwortung dafür, dass sich solche Tragödien nicht wiederholen dürfen. Oft waren sie sich im Ziel einig und nur der Weg dahin ein Streitthema. Diese geteilte Erfahrung fehlt heute. Trotzdem gibt es auch heute nachdenkliche und sensible Debatten, wie etwa bei ethischen Themen wie der Organspende.
Beobachtungen von der Besuchertribüne
Der 2016 verstorbene Publizist verfolgte im Wahljahr 2013 die Debatten im Bundestag. Von seinen Beobachtungen erzählt er in seinem Buch "Das Hohe Haus".
Welches waren die Sternstunden der Debattenkultur im Bundestag? Lassen sich da gewisse Debatten besonders hervorheben?
Jacqueline Schäfer: Eine Sternstunde war definitiv die Bonn-Berlin-Debatte am 20. Juni 1991. Die Reden waren voller Respekt, Nachdenklichkeit und sprachlicher Schönheit. Eine Aussage von Hans Klein ist mir in besonderer Erinnerung geblieben: "Ich werde für Bonn stimmen. Dennoch tue ich dies nicht in totaler Selbstgewissheit [...]. Die Entscheidung, die wir heute treffen, wird eine demokratische Entscheidung sein. Sie sollte nicht durch Radikalformulierungen abgewertet werden". Solche Momente, in denen Politiker offen über ihre Zweifel sprechen und den Entscheidungsprozess transparent machen, sind selten. Positiv hervorzuheben sind auch die ethischen Debatten zur Präimplantationsdiagnostik oder Sterbehilfe, die von hoher Reflexionsfähigkeit zeugten.
Wie sieht es mit Negativbeispielen aus?
Jacqueline Schäfer: Negativbeispiele sind die Debatten über die Vergewaltigung in der Ehe in den 1980er Jahren. Da gab es zum Teil heftige und diffamierende Angriffe, vor allem gegen die Frauen.
Welche Rolle spielen heute die sozialen Medien und wie haben sie die Debatte verändert?
Jacqueline Schäfer: Die sozialen Medien und die Digitalisierung allgemein haben die politische Kommunikation extrem verändert. Politische Akteure setzen zunehmend auf Polarisierung und Provokation, um Aufmerksamkeit zu erregen und viral zu gehen, was oft mehr Aufmerksamkeit bringt als differenzierte Argumentationen. Da hat eine "TikTokisierung" der Politik stattgefunden. Aber auch in den traditionellen Medien geht die klassische Nachricht verloren und es wird immer mehr auf Klicks und Reichweite gesetzt. Dabei glaube ich, dass die Menschen sich nach sachlichen und ausgewogenen Berichten sehnen, die ihnen erlauben, sich selbst eine Meinung zu bilden.
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