Krisen, Abstiegsängste, Unzufriedenheit : Der zivile Konsens steht unter Druck
Seit 75 Jahren sorgt der Bundestag für Stabilität. Doch viele treibt der Verdacht um, dass die Zeit der wirklichen Bewährung erst kommt.
Das Urteil des Souveräns über den Jubilar fällt leicht widersprüchlich aus. Immer wenn Demoskopen das Volk befragen, ob es seinen Institutionen vertraut, landet der Bundestag im Mittelfeld. Meist geht nur die Hälfte der Daumen nach oben, manchmal weniger.
Ein bedenklicher Befund für die Demokratie, könnte man meinen, doch der Fall scheint komplizierter. Denn wer ganz normalen Leuten zuhört, wenn sie sich über Politik erregen, der hört sie auf Kanzler oder Ministerinnen schimpfen, auf Parteien oder, wenn der Urheber des Missfallens nicht genauer auszumachen ist, pauschal auf "die da in Berlin".
Früher “Schwatzbude”, heute Inventar der Republik
Das Parlament als solches aber bleibt in aller Regel unbeschimpft. Es zu stürmen, kommt bloß Wirrköpfen in den Sinn. Und nur der alte Reichstagsbau erinnert sich noch daran, dass er sich in jungen Jahren als "Reichsaffenhaus" (Wilhelm II.) und "Schwatzbude" (derselbe, in der Weimarer Republik zitiert von ihren Totengräbern) verunglimpfen lassen musste. Der Bundestag hingegen gehört nach 75 Jahren für die meisten Bürger offenkundig schlicht zum Inventar der Republik.
Dahinter steckt freilich auch ein Phänomen, das schon zum 25. Jahrestag 1974 der damalige Oppositionsführer Karl Carstens (CDU) beklagte: Er glaube, "dass sich ein sehr großer Teil unserer Bevölkerung immer noch eine unzulängliche Vorstellung von der Bedeutung und der Arbeitsweise und den Möglichkeiten und den Schwierigkeiten macht, mit denen der Bundestag zu tun hat", konstatierte der spätere Bundespräsident in der "Zeitschrift für Parlamentsfragen".
Die repräsentative Demokratie ist kompliziert
Sein Befund gilt ein halbes Jahrhundert später immer noch. Wer nicht von Berufs wegen mit den Mechanismen des Parlaments und den Wegen der Gesetzgebung befasst ist, der kennt sie nicht. Man kann das Chantal und Otto Normalbürger nicht einmal ernsthaft vorwerfen. Die repräsentative Demokratie in ihrer föderal-bundesdeutschen Variante mag in der Theorie noch halbwegs einfach zu erklären sein. In der Praxis ist sie eine komplizierte Staatsform.
Man muss da noch nicht mal ans Wahlrecht denken. Schon die Begriffe und formalen Abläufe des Parlamentsalltags stellen Außenstehende vor Rätsel. Weder in der ersten noch in der dritten Lesung wird ja etwas vorgelesen. Beim Hammelsprung sucht man den Bock vergebens. Dass das Grundgesetz dem Abgeordneten Gewissensfreiheit garantiert, er sich aber meist willig der Fraktionsdisziplin unterwirft, weil alle nur gemeinsam stark sind, ist steter Quell von Missverständnissen.
Selbst Grundlegendes bleibt jenseits des Regierungsviertels so gut wie unbekannt. Dass der Saal unter der Reichstagskuppel als Schauplatz der öffentlichen Debatte und Ort der Abstimmungen zentral wichtig ist, die eigentliche Arbeit aber in den Ausschüssen erfolgt - von der Formulierung der Gesetze bis zur Kontrolle der Regierung, die dort regelmäßig Bericht zu erstatten hat - darf als Insider-Wissen gelten.
Warum ist der Plenarsaal leer?
Jahrzehnte politischer Bildungsbemühungen haben daran so wenig geändert wie das Parlamentsfernsehen. Vielleicht trägt die Live-Übertragung sogar manchmal zur Irritation bei: Warum ist es im Plenarsaal oft so leer? Sind die alle faul? Nein, sie folgen einer stillschweigenden Abmachung. Müssten für jedes der gut 100 Gesetze im Jahr immer alle Abgeordneten anrücken, kämen sie zu wenig anderem mehr. So stimmt meist nur die paar Handvoll Experten ab, die an dem Gesetz gearbeitet haben - und die Opposition versucht fairerweise nicht, die Regierungsfraktionen zu überstimmen.
Demokratische Wahl nach zwölf Jahren Diktatur: Eine Kiste soll 1949 die geheime Stimmabgabe eines Krankenhauspatienten sicherstellen.
Entstanden ist dieser pragmatische Brauch dort, wo der Bundestag seine ersten fünf Jahrzehnte verbracht hat, in Bonn. In der beschaulichen Residenzstadt am Rhein wurden die Grundlagen einer informellen politischen Kultur geprägt, deren Bedeutung für die Stabilität der Republik gar nicht überschätzt werden kann.
Demokratie funktioniert nämlich zur Not auch dann noch, wenn sich alle bloß an die Regeln halten. Lebendig wird sie erst jenseits der Geschäftsordnung. Dort also, wo politische Konkurrenten sich auf ein Bier oder zum Fußballspiel treffen können, wo Presse und Politik ihr schwieriges Nähe-Distanz-Verhältnis ausbalancieren, wo Respekt herrscht, Höflichkeit, ein gemeinsames Verständnis von Anstand und zumindest die leise Ahnung, dass in fast allen Streitfragen beide Seiten irgendwo Recht haben, weshalb Kompromisse nicht faul sind, sondern nötig.
Wie wichtig dieser stillschweigende Kodex ist, wusste schon Paul Löbe. Als der 73-jährige Sozialdemokrat am 7. September 1949 als Alterspräsident die erste Sitzung des neuen deutschen Parlaments in der einstigen Turnhalle der Pädagogischen Akademie in Bonn eröffnete, mahnte er die Kollegen: "Wollen wir vor der deutschen Geschichte bestehen, dann müssen wir uns, ob in Koalition oder Opposition, so weit zusammenfinden, dass Ersprießliches für unser Volk daraus erwächst." Löbe wusste, wovon er sprach. Er hatte als Reichstagsabgeordneter miterlebt, wie die Weimarer Republik in Straßenschlachten unterging.
Großkonflikte überparteilich entschärft
Die Bonner Republik sollte es besser machen. Ihr ziviler Konsens hat brutale Machtkämpfe und harte politische Gegensätze nie ausgeschlossen. Aber er hat dazu beigetragen, es vielleicht erst möglich gemacht, dass daraus keine Systemkrisen wurden. Das Land ist an Wiederbewaffnung und Nachrüstung, an Notstandsgesetzen oder Euro-Streit nicht gescheitert und hat dem RAF-Terrorismus standgehalten. Es hat sich zum Staunen der Welt friedlich, wenn auch keineswegs bruchlos wiedervereinigt. Das Parlament entschärfte überparteilich Großkonflikte wie den Streit um die Abtreibung und wahrte auch seine Rechte gegenüber der Regierung, notfalls mit Hilfe des Verfassungsgerichts.
Das ging alles nicht ohne Mühe, Verwerfungen und Querelen ab. Aber es ist gelungen. Große Reden sind gehalten, würdige Feierstunden gestaltet und aufwühlende Debatten geführt, Regierungswechsel als demokratische Selbstverständlichkeit vollzogen worden. Über die Jahre hinweg hat der Bundestag der Republik eine stabile rechtliche und politische Ordnung gegeben, deren Wert oft erst erkennt, wer sie mit Abstand von außen betrachtet. Und trotzdem - 75 Jahre und so recht keine Feierlaune. Da wirkt gewiss auch eine allgemeine Missstimmung: Krisen überall, Abstiegsängste, Unzufriedenheit der Regierten mit der Politik und ihren Akteuren.
Interessenausgleich droht an Grenzen zu stoßen
Aber es kommt etwas dazu, was auf unangenehme Weise neu ist für die Volksvertretung. Ihr ziviler Konsens steht unter Druck, von außen wie von innen. Der Druck geht von neuen Fragen aus: Kann das langsame, in Wahlperioden getaktete und auf Ausgleich vieler Interessen gerichtete System auf Weltkrisen wie die Klimakatastrophe angemessen reagieren?
Der Druck geht aber vor allem von neuen Akteuren aus. Das öffentliche Umfeld hat durch Smartphone und Social Media einen epochalen Umbruch erlebt: mehr Tempo, mehr Information, mehr Mitreden, auch mehr Unsinn, Lügen, Emotion.
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Und auch innen, im Bundestag selbst, sind neue Kräfte am Werk. Als die Grünen 1983 als erste neue Partei ins Hohe Haus einzogen, kamen ihre Strickpullis und basisdemokratischen Flausen den Alteingesessenen befremdlich vor. Aber so wie später auch Die Linke akzeptierten sie den Kodex der Arbeits- und Umgangsformen, der Diskussionskultur. Seit die "Alternative für Deutschland" 2017 die Rechtsaußen-Plätze unter der Kuppel besetzt hat, sehen viele den Kodex in Gefahr. Der Tonfall ist rau geworden vom Plenarsaal bis an Wahlkampfstände. Diskutiert wird gerade eine neue Geschäftsordnung, die den zunehmenden rassistischen und sexistischen Sprüchen einen Riegel vorschieben soll.
Paul Löbe hätte sich kaum vorstellen mögen, dass das nötig werden könnte in dem Parlament, dem er die erste Geburtstagsrede hielt. Aber er wusste: Demokratie ist nicht aus sich heraus stabil, sondern stets eine Staatsform auf Bewährung. 75 Jahre lang hat der Bundestag die Probe bestanden. Im Jubiläumsjahr treibt viele der Verdacht um, dass die Zeit der wirklichen Bewährung erst kommt.
Der Autor war von 1988 bis 1997 Parlamentskorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters und anschließend bis 2023 in gleicher Funktion beim Berliner "Tagesspiegel".