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Die konstituierende Sitzung des Bundestages in Bonn: 410 Abgeordnete gehörten dem ersten Parlament der bundesdeutschen Geschichte an.

Konstituierende Sitzung : Die Stunde Null des Deutschen Bundestages

Am 7. September 1949 konstituiert sich in Bonn der erste Bundestag. Die Herausforderungen sind immens, wie Alterspräsident und Bundestagspräsident deutlich machen.

30.08.2024
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Als am 7. September 1949 der Deutsche Bundestag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentritt, ist Deutschland ein geschlagenes, geteiltes, besetztes und zertrümmertes Land. Knapp viereinhalb Jahre liegt die bedingungslose Kapitulation zurück, das Ergebnis eines "Totalen Krieges" und des Herrschafts- und Vernichtungswahns der von den Nationalsozialisten angeführten Deutschen. Millionen Vertriebene aus dem früheren Osten des Reichs müssen integriert werden, Tausende deutsche Soldaten sitzen noch in Kriegsgefangenenlagern.

Geopolitisch hat sich die Lage spätestens seit dem Jahr 1948 verschärft. Die im Juni 1948 begonnene Blockade Berlins endete zwar im Mai 1949, doch mit der Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai, der Gründung der Bundesrepublik in den drei westlichen Besatzungszonen und der Bundestagswahl vom 14. August zementiert sich die Trennung des Landes. Einen Monat nach der konstituierenden Sitzung des Bundestages, am 7. Oktober, wird sich in der sowjetischen Besatzungszone die Deutsche Demokratische Republik gründen.

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Der Bundesrat konstituierte sich am Vormittag des 7. September 1949. Erster Präsident der Länderkammer wurde der NRW-Ministerpräsident Karl Arnold.

In dieser Gemengelage machen sich Anfang September 402 im Westen gewählte Abgeordnete sowie acht sogenannte Berliner Abgeordnete auf nach Bonn. Die Stadt am Rhein diente schon dem Parlamentarischen Rat als Tagungsort. Bonn empfängt die Abgeordneten an diesem Septembertag unter "regenschwerem Himmel", wie es in einem Bericht der "Welt" heißt. Auch die Ministerpräsidenten der elf Länder versammeln sich. Sie konstituieren am Vormittag mit dem Bundesrat das erste Verfassungsorgan der Bundesrepublik und legen damit die Grundlage für das föderale System des neuen Staates. Erster Präsident der Länderkammer wird der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Karl Arnold.

Für die Bundestagsabgeordneten stehen zunächst Gottesdienste auf dem Programm, dann strömen sie in die zum Plenarsaal umgebaute Turnhalle der Akademie. Tausende Menschen verfolgen vor den Türen die Übertragung der Stunde Null des Parlamentarismus in der jungen Bundesrepublik. Sie wird um 16.05 Uhr zu den Tönen von Beethovens Ouvertüre "Die Weihe des Hauses" eingeleitet. Dann tritt Paul Löbe vor. Er sei am 14. Dezember 1875 geboren, teilt er den Abgeordneten mit und will wissen, ob unter den Versammelten ein älteres Mitglied ist. Das ist nicht der Fall. Damit ist der 73-Jährige der erste Alterspräsident des Bundestages. Ihm wird die Aufgabe zuteil, die konstituierende Sitzung bis zur Wahl eines Präsidenten zu leiten.

Ein erfahrener Alterspräsident hält die erste Rede

Löbe verkörpert sowohl die parlamentarische Tradition der Weimarer Republik als auch den Neubeginn und die Wirren der Nachkriegszeit. Nur wenige haben den Niedergang der Weimarer Demokratie so nah verfolgt wie Löbe. Der gelernte Schriftsetzer, seit 1893 Mitglied der SPD, arbeitete die Weimarer Reichsverfassung mit aus - und amtierte dann, mit einer kurzen Unterbrechung, von 1920 bis 1932 als Reichstagspräsident. 1932 wird er vom Nationalsozialisten und Antidemokraten Hermann Göring abgelöst.

17 Jahre später ist Löbe nicht nur Zeuge des Niedergangs von Weimar und der anschließenden Verfolgung demokratischer Kräfte durch die Nazis. Der aus Niederschlesien vertriebene Löbe steht als einer der acht Berliner Abgeordneten auch für die neue Realität eines geteilten Deutschlands.

In dem aufgeteilten Berlin hatte keine Bundestagswahl stattgefunden - und wird es auch nicht bis 1990. Die Mitglieder bestimmte das Abgeordnetenhaus. Im Bundestag dürfen sie zwar reden, aber nicht abstimmen. Prägen werden die Berliner die Bundesrepublik trotzdem - unter anderem gehört der spätere Bundeskanzler Willy Brandt zu den Berlinern der ersten Stunde.

Die Berliner hoffen auf Bundestag

Löbe erinnert in seiner Rede an diesen Umstand. "In der Entsendung der Berliner Abgeordneten kommt der einhellige Wunsch seiner Bewohner zum Ausdruck, in dieses neue Deutschland einbezogen zu sein, und die Hoffnung, dass dieser Wunsch durch Ihre Arbeit bald seine Erfüllung finde", sagt der Sozialdemokrat. Die "Wiedergewinnung der deutschen Einheit" werde von den Parlamentariern als ihre erste Aufgabe gesehen, betont der Alterspräsident, versichert indes sogleich, "dass dieses Deutschland ein aufrichtiges, vom guten Willen erfülltes Glied eines geeinten Europas sein will".

Auch die Schuldfrage greift der Sozialdemokrat in dieser ersten Rede im Bundestag auf. Sie wird die Bundesrepublik noch Jahrzehnte beschäftigen. Sie hat aber schon 1949 eine unmittelbare politische Dimension, etwa bei den schwierigen Fragen zu Reparationen, Demontage und Deutschlands Wiederaufnahme in den Kreis der internationalen Gemeinschaft.


Paul Löbe im Portrait
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„Es braucht nicht niederreißende Polemik, sondern aufbauende Tat.“
Alterspräsident Paul Löbe (SPD)

In Anwesenheit der Hohen Kommissare der Westmächte geht Löbe auf Vorhaltungen "von draußen" ein, nach denen Deutschland die Schwere seiner Schuld nicht erkannt habe und sich gegenüber der Hilfe aus dem Ausland nicht dankbar genug zeige. Dankbar zeigt sich Löbe, gerade auch für die Unterstützung der West-Alliierten für Berlin, für "unseren Freiheitskampf", während der Blockade. Auch bestreite man "keinen Augenblick das Riesenmaß von Schuld, das ein verbrecherisches System auf die Schultern unseres Volkes geladen hat".

Löbe spricht von “zweifacher” Geißelung" der Deutschen

Allerdings will Löbe auch die Opferrolle des deutschen Volkes anerkannt wissen. Schließlich habe es unter "zweifacher Geißelung" gelitten, stöhnte es doch "unter den Fußtritten der eigenen Tyrannen und unter den Kriegs- und Vergeltungsmaßnahmen, welche die fremden Mächte zur Überwindung der Naziherrschaft ausgeführt haben". Schon fast entschuldigend fügt er hinzu, dass die eigene Not den Blick auf das große Ganze verstelle. "Wessen Haus an allen Ecken brennt, der sieht zunächst die eigene Not, ehe er die Fassung gewinnt, die Lage des Nachbarn voll zu würdigen."

Vorwürfen, die Deutschen hätten sich nicht genügend gegen den NS-Terror gewehrt, hält Löbe, selbst mehrfach inhaftiert, Biographisches entgegen. Er gehörte wie 93 weitere Sozialdemokraten zu den Parlamentariern, die am 23. März 1933 gegen das "Ermächtigungsgesetz" stimmten, das liberal-konservative Lager hingegen stimmte der faktischen Abschaffung des Parlamentarismus zu. "Der Widerstand dagegen war ein patriotischer Akt", so Löbe. 21 der 94 abstimmenden Sozialdemokraten hätten - wie auch viele Kommunisten - ihren Widerstand mit dem Leben bezahlt, betont Löbe, ohne Opfer aus dem bürgerlichen Lager unerwähnt zu lassen. Die Folgen dieser Selbstentmachtung, das macht der Sozialdemokrat deutlich, könne man 16 Jahre später rund um Bonn im zerstörten Ruhrgebiet noch sehen.

Löbe skizziert den Abgeordneten, welche Hoffnungen auf ihnen und dem Bundestag ruhen. Alte und junge Abgeordnete seien vereint, "in der schweren Aufgabe, an die Stelle der Trümmer wieder ein wohnliches Haus zu setzen und in den Mutlosen eine neue Hoffnung zu wecken". Man solle eine "stabile Regierung, eine gesunde Wirtschaft, eine neue soziale Ordnung in einem gesicherten Privatleben" aufrichten und das "Vaterland einer neuen Blüte und neuem Wohlstand entgegenführen", sagte Löbe. Trotz all der Herausforderungen - und um die Unterstützung aus dem Ausland bittend - zeigt sich der Sozialdemokrat zuversichtlich: "Unser arbeitsames, tüchtiges, ordnungsliebendes, leider politisch so oft irregeführtes Volk wird es schaffen!"

Alterspräsident bittet um Mäßigung statt Polemik

Seine Rede schließt der erfahrene Parlamentarier mit einem Appell an seine Kollegen: Statt einer Fortsetzung des erbittert geführten Wahlkampfes sei nun Mäßigung gefragt. "Es braucht nicht niederreißende Polemik, sondern aufbauende Tat." Koalition und Opposition müssten sich soweit zusammenfinden, "dass Ersprießliches für unser Volk daraus erwächst, damit wir uns auch die Achtung für unser deutsches Volk in der Welt draußen zurückgewinnen".

Das Protokoll hält nach Löbes eindringlichen Worten anhaltenden, lebhaften Beifall fest. Danach wird es so historisch wie geschäftsmäßig. Die Wahl des ersten Bundestagspräsidenten steht an. Der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer meldet sich zu Wort und schlägt für die CDU/CSU-Fraktion den Christdemokraten Erich Köhler vor. CDU und CSU hatten bei der Bundestagswahl die meisten Mandate errungen und erheben damit den Anspruch, das Amt des Bundestagspräsidenten zu besetzen.

Einmütig ist die Wahl aber nicht, die Kommunisten grätschen dazwischen. Für die KPD-Fraktion schlägt der Abgeordnete Max Reimann den Sozialdemokraten Hans Böhm vor. Der will davon aber gar nichts wissen und teilt unmittelbar nach dem Vorschlag mit, dass er seine Wahl ablehne. Immerhin 15 Abgeordnete lassen sich davon nicht beirren und wählen Böhm trotzdem. Bei 41 Enthaltungen wird aber Köhler mit 346 Stimmen zum Bundestagspräsidenten gewählt. Unter seiner Leitung werden Carlo Schmid (SPD) und Hermann Schäfer (FDP) zu den ersten Vizepräsidenten gewählt, auch die Schriftführer werden bestimmt.

Bundestagspräsident Köhler unterstreicht die großen Erwartungen an den Bundestag

Mit dem 1892 in Erfurt geborenen Köhler übernimmt einer der Mitbegründer der hessischen CDU die Leitung des Bundestages. Wie auch Löbe hatte er die Verfolgung durch den NS-Staat erlebt. Weil seine Frau, Helene Freund, Jüdin ist, verliert er Job und Wohnung. Seine Gattin wird zur Zwangsarbeit verpflichtet. 

Köhler knüpft in seiner Rede an Löbes Appell an die Abgeordneten an - und setzt die Erwartungen noch ein Stück höher. Mit der Wahl des Bundestages habe sich das Volk der Bundesrepublik zu einer "staatlichen Lebensform" bekannt, "die uns in Übereinstimmung mit dem größten Teil der Welt die höchste und edelste Formung des politischen und menschlichen Zusammenlebens auf der Erde ist". Diese "verfassungsmäßig gegründete Staatsautorität" werde durch die gesetzgebenden Organe verkörpert, müsse aber noch eine "geistige Verankerung" im Volke finden. Das könne aber nur gelingen, so der Christdemokrat, wenn die Abgeordneten sich ethisch vom Maßstab des Dienens leiten ließen: "Wir wollen dienen. Wir wollen dienen den Armen und Bedürftigen, wir wollen die Selbstsucht in Schranken halten, und wir wollen den Schwachen vor dem Starken schützen."

Köhler will die “Würde des Hauses” wahren

Auch die besondere Verpflichtung "als erstes Parlament des neuen Staates nach einem beispiellosen Zusammenbruch" hebt der Christdemokrat hervor. Er fordert die Abgeordneten auf, die "Würde unserer Verhandlungsweise" zu verkörpern und "aus unserer inneren Verpflichtung gegenüber Volk und Welt Maß und Form des Wortes zu gestalten". Köhler betont, dass er seinen Beitrag dazu leisten wolle. "Die erste und vornehmste Aufgabe des Präsidenten des Bundestages sehe ich in seiner Verpflichtung, die Würde dieses Hauses zu wahren", sagt er. Auch wolle er die Rechte des Bundestages zur notwendigen Geltung bringen, die Arbeit des Bundestages im Rahmen der - damals noch nicht ausgearbeiteten - Geschäftsordnung erleichtern und fördern sowie die Sitzung objektiv und gerecht leiten. Köhler legt damit das Fundament für das Amtsverständnis seiner Nachfolger.


Schwarz-weiß Porträt von Erich Köhler
Foto: DBT
„Wir wollen dienen. Wir wollen dienen den Armen und Bedürftigen.“
Bundestagspräsident Erich Köhler (CDU)

Zur Bekräftigung des Dienstes am Volke lässt Köhler die Abgeordneten am Schluss seiner Rede sich erheben. "Wir grüßen das deutsche Volk und das deutsche Vaterland!", schließt Köhler, bevor erneut Beethoven erklingt. Zu hören gibt es den letzten Satz der 5. Symphonie.

Doch das feierlich-bombastische Finale der Symphonie ist noch nicht ganz das Ende der Sitzung. Erste Misstöne treten zutage und lassen die Schärfe der kommenden Auseinandersetzung erahnen. Nachdem Köhler zunächst noch die Einsetzung eines vorläufigen Geschäftsordnungsausschusses und des Ältestenrats verkündet, wollen KPD und SPD gleich zur Tat schreiten und Politik machen. Doch Anträge zum Thema Demontage lässt der Bundestagspräsident nicht abstimmen, sondern nur zur Kenntnis nehmen. Knapp zwei Stunden nach Eröffnung, um 18.18 Uhr, schließt der Bundestagspräsident die konstituierende Sitzung des Bundestages.

Kurz nach der Konstituierung folgen die Wahl von Bundespräsident und Bundeskanzler

Die konstituierende Sitzung ist nur der erste Höhepunkt im September 1949, schließlich benötigt die junge Bundesrepublik noch weitere Verfassungsorgane. Fünf Tage später tritt die Bundesversammlung zusammen. Sie wählt den FDP-Abgeordneten Theodor Heuss zum ersten Bundespräsidenten des Landes. Am 15. September wird Konrad Adenauer (CDU) zum ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik gewählt. Ihm war es gelungen, eine Koalition von CDU, CSU, FDP und Deutscher Partei zu bilden. Am 20. September werden Adenauer und seine 13 Minister vereidigt.

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Der Bundestag erinnert mit einem Bürgerfest an die erste Bundestagswahl im Jahr 1949 und daran, wie die junge Bundesrepublik ihre ersten staatlichen Schritte tat.

Ebenfalls am 20. September gibt sich der Bundestag eine modifizierte Geschäftsordnung, basierend auf der des Reichstags. Wenige Tage später werden auch die ersten Ausschüsse des Bundestages eingesetzt. Der parlamentarische Maschinenraum nimmt seine Arbeit auf.

Bundestagspräsident Köhler tritt bereits nach einem Jahr zurück

Bundestagspräsident Köhler leitet diesen Maschinenraum nur kurze Zeit. Am 16. Oktober 1950 tritt er nach einem Nervenzusammenbruch zurück. Seine Amtsführung war umstritten. So sorgte der Ausschluss des SPD-Oppositionsführers Kurt Schumacher für 20 Sitzungstage für Unmut. Schumacher hatte Adenauer Ende November 1949 als "Bundeskanzler der Alliierten" tituliert und ein Eklat provoziert. Köhlers Nachfolge tritt Hermann Ehlers (CDU) an.

Den ersten Bundestag bremst das allerdings nicht. Etliche Großvorhaben, etwa im Wohnungsbau oder beim Lastenausgleich, setzten die Abgeordneten um. Bis 1953 werden die Abgeordneten an 282 Sitzungstagen 545 Gesetze verabschieden und so das Fundament der frühen Bundesrepublik und der parlamentarischen Demokratie legen.