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Wahlrecht und Parteien : Im Wandel der Zeit

Die zunehmende Fragmentierung der Parteienlandschaft basiert bis auf zwei Ausnahmen nicht auf dem Wahlrecht. Die Ursachen dafür sind unterschiedlich.

28.08.2024
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Der Parlamentarische Rat legte den Modus des Wahlsystems nicht im Grundgesetz fest, um eine etwaige Revision zu erleichtern. Dies resultierte zum einen aus den Erfahrungen der Weimarer Republik, in deren Verfassung das Verhältniswahlsystem stand. Es ließ sich angesichts der Mehrheitsverhältnisse nicht mehr ändern. Zum anderen unterblieb eine Festschreibung des Wahlverfahrens deshalb, weil die Parteien sich über dessen Ausgestaltung nicht einig wussten.

So kam die Union mit ihrem Plädoyer für die relative Mehrheitswahl gegen die SPD und andere Parteien nicht durch. Der Einzug von zehn Fraktionen (CDU und CSU bildeten stets eine) in den ersten Deutschen Bundestag rührt neben der mangelnden Festigkeit des Parteiensystems aus folgendem Umstand: Die Fünfprozentklausel zählte 1949 nur für die Länderebene: Parteien mit mindestens fünf Prozent in einem Bundesland erhielten Mandate.

Bundesweite 5-Prozent-Klausel ab 1953

Seit dem Wahlgesetz von 1953 für den zweiten Bundestag wird die Fünfprozentklausel auf die Bundesebene bezogen, jeder Wähler hat nunmehr zwei Stimmen: eine für eine Person, die den Wahlkreis vertritt, und eine für eine Partei. Die Union vermochte sich mit ihrem Vorschlag eines mehrheitsbildenden Wahlsystems zwar erneut nicht durchzusetzen, stimmte dann aber dem Wahlgesetz zu. Dies trifft ebenso für das von 1956 zu, das mit zahlreichen Modifikationen bis heute gilt und weitgehend dem vorherigen glich. Der ursprüngliche Versuch der Union wie der Deutschen Partei (DP), ein Grabenwahlsystem zu verankern (ein echter Kompromiss zwischen Mehrheits- und Verhältniswahl, da eine Verrechnung zwischen Erst- und Zweitstimmen fehlt), stieß auf erbitterten Widerstand der Konkurrenz. So verließ die FDP auch deswegen die Koalition.

Foto: picture-alliance/ dpa

Mit den Grünen zieht 1983 eine neue Partei in den Bundestag ein: Gert Bastian, Petra Kelly, Otto Schily und Marieluise Beck-Oberdorf am 29. März 1983 mit Topfpflanzen, Blumen und einer abgestorbenen Tanne auf dem Weg zur konstituierenden Sitzung des neu gewählten Bundestages.

Zur Zeit der ersten Großen Koalition 1966 bis 1969 fand die mit Abstand größte Wahlsystemdiskussion statt. Diese wollte die relative Mehrheitswahl einführen - Koalitionen wären damit obsolet gewesen. Doch eine solche Reform kam vor allem deshalb nicht zustande, weil die SPD die Gunst der FDP zu gewinnen suchte - was 1969 mit der Bildung der sozialliberalen Koalition auch gelang. Seither propagiert kaum ein Politiker ein mehrheitsbildendes Wahlverfahren.

Gleichwohl wurde das Verfahren vielfach geändert, wenngleich nicht grundlegend. 2008 hatte das Bundesverfassungsgericht einen Teil des Bundeswahlgesetzes wegen des paradoxen Effekts des "negativen Stimmgewichts" im Zusammenhang mit dem Gewinn von Überhangmandaten für verfassungswidrig befunden. Mehr Stimmen konnten zu einem Mandat weniger führen. Die folgende Novellierung des Wahlgesetzes der schwarz-gelben Koalition von 2011 - zum ersten Mal beschloss der Bundestag sie ohne Zustimmung der Opposition - führte zu Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht. Dieses verwarf das neue Gesetz wegen des Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz. Die Neufassung von 2013 ergänzte die Überhangmandate durch Ausgleichsmandate mit der Konsequenz eines aufgeblähten Parlamentes.

Kampf um die Grundmandatsklausel

Erst 2023 schaffte die "Ampel"-Regierung diesen Missstand ab: durch die Begrenzung der Größe des Bundestages auf 630 Abgeordnete und den Verzicht auf Überhangmandate. Aufgrund der nötigen "Zweitstimmendeckung" gelangt nun nicht mehr jeder Wahlkreissieger in den Bundestag. Das von der parlamentarischen Opposition angerufene Bundesverfassungsgericht erklärte Ende Juli die Reform in weiten Teilen für rechtens, jedoch nicht die Abschaffung der Grundmandatsklausel. Dies könnte zu neuerlichen Diskussionen über die Fünfprozenthürde führen. An ihr scheiterten vorübergehend die westdeutschen Grünen 1990, die Postkommunisten 2002, die Liberalen 2013.

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Waren 1953 noch sechs Fraktionen im Parlament vertreten, reduzierte sich deren Anzahl 1957 auf vier (Union, SPD, FDP, DP). Da die DP im nächsten Bundestag fehlte, gehörten zwischen 1961 und 1983 bloß drei Fraktionen dem Bundestag an. 1983 gelang den Grünen zum ersten Mal der Einzug in den Bundestag, 1990 der aus der SED hervorgegangenen PDS, die seit dem Zusammenschluss mit der westdeutschen WASG (2007) Die Linke heißt. Seit 2017 ist auch die vier Jahre zuvor gegründete AfD parlamentarisch präsent. Das im Januar 2024 als deren Abspaltung ins Leben gerufene Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) darf nach derzeitigen Umfragen auf einen Einzug in den nächsten Bundestag hoffen.

Die zunehmende Fragmentierung des Parteiensystems basiert nicht auf dem Wahlrecht - mit Ausnahme der modifizierten Fünfprozentklausel des Jahres 1953 sowie der 1990 vom Bundesverfassungsgericht auferlegten Bestimmung, gesonderte Sperrklauseln für Ost und West vorzusehen. Dies half der PDS.

Wahlsystem-Wissen auf einen Blick

Relative Mehrheitswahl: Gewählt wird ausschließlich in Wahlkreisen, es gibt keine Listen von Parteien. Mandate erringen die Kandidaten, die in ihrem Wahlkreis jeweils mehr Stimmen erhalten als alle anderen Kandidaten. Die Gesamtzahl der Abgeordneten entspricht folglich der Zahl der Wahlkreise. 

Absolute Mehrheitswahl: Wie die relative Mehrheitswahl, allerdings müssen die Kandidaten in ihrem Wahlkreis jeweils mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen erringen, eventuell in Stichwahlen.

Reine Verhältniswahl: Die Parlamentssitze werden im selben Verhältnis auf die Parteien verteilt, wie diese Stimmen erhalten haben. Entscheidend sind allein die Listen der Parteien, nicht die Wahlkreise.

Mischwahl: Aspekte von Mehrheitswahl und Verhältniswahl werden berücksichtigt, verschiedene Ausgestaltungen sind denkbar.

Grabenwahlsystem: Ist eine Form der Mischwahl: Die eine Hälfte der Mandate wird über Wahlkreise nach der (relativen) Mehrheitswahl vergeben, die andere Hälfte über Parteilisten nach der Verhältniswahl.



2021 hatte die SPD als stärkste Partei nur 25,7 Prozent der Stimmen erreicht. Die Dekonzentration beruht auf unterschiedlichen Ursachen: Nachlassende Integrationskraft der Volkparteien wurzelt in der Erosion der traditionellen gewerkschaftlichen und konfessionellen Milieus. Individualisierung wie Säkularisierung sorgen für veränderte Konfliktstrukturen, Klima- und Migrationspolitik stellen neue Herausforderungen dar. Stimmenrückgänge für die etablierten Kräfte sind angesichts des Aufkommens populistischer Kräfte, die Repräsentationslücken nutzen, kein spezifisch deutsches Phänomen. Hier kommen Nachwirkungen der deutschen Einheit hinzu.

Mischung aus Personen- und Listenwahl

Trotz häufig anzutreffender Charakterisierungen des deutschen Wahlsystems als "Mischwahl" handelt es sich dabei um eine Verhältniswahl. Stimmen- und Mandatsanteil konvergieren - mit der Ausnahme von Überhangmandaten, die bis 2013 nicht ausgeglichen wurden. Sie entstanden, wenn eine Partei mehr Direktkandidaten in den Bundestag entsenden konnte als ihr nach den Zweitstimmen zufielen. "Mischwahl" ist das Wahlsystem in einem anderen Punkt, nämlich Personen- (Erststimme) und Listenwahl (Zweitstimme). Sehr häufig zieht die Zweitstimme die Erststimme nach sich.

Der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) plädierte immer wieder dafür, die Grundzüge des Wahlsystems (Verhältniswahl, Sperrklausel) in der Verfassung zu verankern. Parteien können in Versuchung geraten, das Wahlsystem zu ihren Gunsten zu ändern. Doch davor sei gewarnt: Wahlsystemfragen sind nicht nur Machtfragen, sondern auch Legitimationsfragen. Ein fair ausgestaltetes Wahlverfahren sorgt für Konsens. Dessen sollten sich die tragenden gesellschaftlichen Kräfte bewusst sein.

Der Parteien- und Wahlforscher lehrte an der TU Chemnitz Politikwissenschaft.

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