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Foto: picture-alliance/W.infried Rothermel
Auf den Wahlzetteln wie hier zur Bundestagswahl 2021 wird die Zweitstimme als maßgebend ausgewiesen. Sie soll künftig alleine über die Verteilung von 630 Mandaten auf die Parteien entscheiden.

Komplexes Wahlrecht : Wie Stimmen zu Sitzen im Parlament werden

Auch die neue Reform beendet nicht den ewigen Zwist um die Mandatszuteilung. Eine Übersicht über die Initiativen der vergangenen Jahre.

20.03.2023
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Jetzt soll also Schluss sein mit diesen "Überhangmandaten" und "Ausgleichsmandaten", die den Bundestag von Wahl zu Wahl größer werden ließen als eigentlich vorgesehen, und Schluss sein auch mit der "Grundmandatsklausel", von der die meisten Wähler noch nie etwas gehört haben dürften. So hat es der Bundestag vergangenen Freitag mit den Stimmen der Koalitionsmehrheit beschlossen und nach deren Willen damit einen Schlussstein unter eine quälend lange Diskussion über eine Reform des Wahlrechts in Deutschland gesetzt.

Die entzündete sich in den vergangenen zehn Jahren daran, dass die Abgeordnetenzahl in dieser Zeit von Bundestagswahl zu Bundestagswahl immer mehr über der gesetzlichen Sollstärke von 598 lag, bis sie 2021 auf aktuell 736 anschwoll - eine Folge eben jener Überhang- und Ausgleichsmandate. Letztere gibt es seit 2013, die Überhangmandate dagegen schon seit Bestehen der Republik. Sie sind ein Produkt der seitdem praktizierten "personalisierten Verhältniswahl", die bereits im "Wahlgesetz zum ersten Bundestag und zur ersten Bundesversammlung" vom 15. Juni 1949 festgeschrieben war.

Der Begriff umschreibt eine Mischung aus einer "relativen Mehrheitswahl", bei der gewählt ist, wer in seinem Wahlkreis von allen Kandidaten die meisten Stimmen erhält, und die beispielsweise bei den britischen Unterhauswahlen angewandt wird, und einer reinen "Verhältniswahl", bei der die Verteilung der Parlamentssitze auf die Parteien wie in der Weimarer Republik exakt im Verhältnis der für sie jeweils abgegebenen Wählerstimmen erfolgt.

Beide Wahlsystem haben Vor- und Nachteile

Beide Wahlsysteme haben Vor- und Nachteile, und für die 1949 gewählte Mischform gilt das nicht weniger. So kommt es beim relativen Mehrheitswahlrecht meist zu klaren Mehrheiten im Parlament und die Bürger vor Ort wissen, wer dort für die Interessen ihres Wahlkreises zuständig ist. Zugleich fallen aber alle Stimmen für die unterlegenen Kandidaten unter den Tisch und große Parteien werden begünstigt. Bei der Verhältniswahl wiederum sind gegebenenfalls sehr viele Parteien im Parlament vertreten, was die Regierungsbildung und -fähigkeit erschwert, und der Wähler kann bei der Stimmabgabe für eine Partei nicht sicher sein, welche Koalition diese nach der Wahl möglicherweise eingeht, um eine Mehrheitsbildung zu ermöglichen.

Der Mix aus beiden Systemen liest sich im Wahlgesetz von 1949 so: "In jedem Wahlkreis wird ein Abgeordneter gewählt; gewählt ist der Bewerber, der die meisten Stimmen auf sich vereinigt", heißt es in Paragraf 9 (relative Mehrheitswahl). Dann werden laut Paragraf 10 in einem Land alle auf eine Partei entfallenen Stimmen addiert und daraus die ihr zustehenden Mandate errechnet (Verhältniswahl). Soweit sie diese nicht mit erfolgreichen Wahlkreisbewerbern besetzt, werden die restlichen Sitze an Listenkandidaten der Partei vergeben. Und schließlich legt Paragraf 10 weiter fest, dass errungene Direktmandate einer Partei auch dann verbleiben, wenn diese die für sie ermittelte Abgeordnetenzahl übersteigen. "In einem solchen Fall erhöht sich die Gesamtzahl der für das Land vorgesehenen Abgeordnetensitze um die gleiche Zahl" - das ist quasi die "Geburtsurkunde" der Überhangmandate, die es künftig nicht mehr geben soll.

Erst- und Zweitstimmen gibt es seit 1953

Es gab sie von Anfang an, auch wenn bei der ersten Bundestagswahl 1949 jeder Wähler "nur" eine Stimme hatte - "Erststimmen" (für Wahlkreiskandidaten) und "Zweitstimmen" (für die Parteilisten) wurden erst zur Wahl von 1953 eingeführt. Begünstigt durch die zunächst noch recht zersplitterte Parteienlandschaft, bei der auch eine Reihe kleiner Parteien im Parlament saßen, gab es 1949 zwei Überhänge, 1953 und 1957 je drei und 1961 fünf. Mit letzterer Wahl hatte sich für gut zwei Jahrzehnte das Drei-Parteien-System aus Union, SPD und FDP etabliert; erst 1980 fiel wieder ein Überhangmandat an, 1983 zwei und 1987 eins.

Bei der ersten gesamtdeutschen Wahl waren es 1990 sechs bei nunmehr fünf im Parlament vertretenen Parteien und 1994 bereits 16. Wenngleich die damalige Regierungsbildung wie alle davor und danach rein rechnerisch auch ohne Überhangmandate möglich gewesen wäre, führten diese 16 zu mehr als 1.300 Wahleinsprüchen und einer Klage der niedersächsischen Landesregierung unter dem späteren Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) beim Bundesverfassungsgericht. Die Karlsruher Richter entschieden indes 1997 (mit Stimmengleichheit von vier zu vier), dass der entsprechende Passus des Bundeswahlgesetzes verfassungsgemäß ist (2 BvF 1/95).

Bundesverfassungsgericht: Nur 15 Überhangsmandate ohne Ausgleich

16 Überhangmandate gab es erst wieder 2005. Vier Jahre danach waren es schon 24 Überhangmandate, alle für die Union. Umso weniger entsprach die Zusammensetzung des Parlaments dem Listenergebnis der Parteien, was deren Wahlrechts- und Chancengleichheit entsprechend beeinträchtigte. 2012 stellte das Bundesverfassungsgericht daher fest, dass es maximal etwa 15 Überhangmandate ohne Ausgleich geben dürfe, was der Hälfte der zur Bildung einer Fraktion erforderlichen Sitzzahl entspricht (Fraktionen müssen mindestens fünf Prozent aller Abgeordneten umfassen, also bei insgesamt knapp 600 Parlamentariern rund 30 Volksvertreter). Der "Grundcharakter" der Bundestagswahl "als einer Verhältniswahl" dürfe durch Überhangmandate nicht aufgehoben werden, urteilten die Richter (2 BvF 3/11).

Zuvor hatte es bereits Gesetzesinitiativen zur Eliminierung des paradoxen Effekts gegeben, dass im Zusammenhang mit Überhangmandaten mehr Wählerstimmen für eine Partei dieser weniger Sitze bescheren konnten und umgekehrt weniger Stimmen mehr Sitze ("negatives Stimmgewicht"). Ein Grünen-Vorstoß in diesem Kontext, dass die Parteien ihre jeweiligen Überhangmandate bundesweit verrechnen müssen (16/11885), scheiterte 2009 noch vor der damaligen Bundestagswahl. Zwei Jahre später fanden Grüne und Linke mit dem Vorschlag, die Anrechnung von Direktmandaten auf das Zweitstimmenergebnis bereits auf Bundesebene erfolgen zu lassen (17/4694, 17/5896), ebenso wenig eine Mehrheit wie die SPD, die bereits damals Überhänge mit Ausgleichsmandaten kompensieren wollte (17/5895).

Seit 2013:Volle Kompensation für Überhangsmandate

Nach dem Urteil zur Begrenzung der Zahl ausgleichsloser Überhangmandate auf etwa 15 verabschiedete der Bundestag schließlich im Februar 2013 einen Gesetzentwurf von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen, nach dem Überhänge einer Partei mit zusätzlichen Ausgleichsmandaten für die anderen vollständig kompensiert werden (17/11819, 17/12417). Bei der Wahl sieben Monate später führten dann vier Überhänge zu 29 Ausgleichsmandaten und einem Bundestag mit 631 Mitgliedern nach zuvor immerhin schon 622.

Schon in der Konstituierenden Sitzung des neuen Bundestages mahnte sein damaliger Präsident Norbert Lammert (CDU) im Oktober 2013, rechtzeitig vor der nächsten Wahl noch einmal "gründlich auf das novellierte Wahlrecht zu schauen", und warnte vor den Folgen, die sich bei einem knapperen Wahlausgang als 2013 "für die Größenordnung künftiger Parlamente ergeben könnten". Nachdem sein Appell nicht fruchtete, ergriff er selbst die Initiative und schlug 2016 vor, eine Höchstzahl von etwa 630 Mandaten festzuschreiben, ab der darüber hinaus gehende Überhangmandate nicht mehr ausgeglichen werden sollten.

Bundestagspräsident Lammert warb erfolglos um Reform des Wahlrechts

Der präsidiale Vorstoß blieb folgenlos, und so führten bei der Wahl von 2017 ganze 46 Überhänge zu schon 65 Ausgleichsmandaten und einer Abgeordnetenzahl von 709. Nun sollte eine Arbeitsgruppe mit Mitgliedern aller im Parlament vertretenen Parteien unter Vorsitz von Lammerts Nachfolger Wolfgang Schäuble (CDU) Abhilfe schaffen, kam aber nach rund einjährigen "intensiven Bemühungen" zu keinem Konsens. Schäuble warb daraufhin dafür, die Zahl der Wahlkreise und damit der Direktmandate von 299 auf 270 zu reduzieren und zudem bis zu 15 Überhangmandate nicht auszugleichen, drang damit aber so wenig durch wie sein Amtsvorgänger.

Das Dilemma selbst blieb: Wie kann die Zahl der Mandate begrenzt werden, wenn die Parteien so stark im Parlament vertreten sein sollen, wie die Wähler per Zweitstimme entschieden haben, und die via Erststimme zu Wahlkreissiegern gekürten Direktkandidaten zwingend einen Abgeordnetensitz erhalten? Mit dem Wahlerfolg der AfD verschärfte sich das Problem noch, denn je mehr Parteien oberhalb der Fünf-Prozent-Hürde Zweitstimmen erobern, bei den Erststimmensiegern aber einzelne entgegen ihrem Listenergebnis - wie die CSU in Bayern - abräumen, klafft die Schere zwischen Wahlkreis- und Listenergebnis immer weiter auseinander.

Erfolglose Vorstöße der Opposition

Die inzwischen als siebte Partei im Parlament vertretene AfD schlug vor, auf die Zuteilung von Überhang- und Ausgleichsmandaten zu verzichten und dabei in Kauf zu nehmen, dass nicht mehr alle Direktkandidaten in das Parlament einziehen, die in ihrem Wahlkreis die meisten Erststimmen erhalten (19/14066, 19/22894). Dagegen verständigten sich die ebenfalls oppositionellen Fraktionen von FDP, Linken und Grünen darauf, zur Verringerung der Überhänge die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250 zu senken (und die Wahlkreise entsprechend zu vergrößern), die Gesamtsollstärke im Bundestag dagegen von 598 auf 630 zu erhöhen (19/14672). Beide Initiativen blieben erfolglos.

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Stattdessen setzten Union und SPD 2020 durch, dass drei Überhänge ohne Ausgleich bleiben, die Zahl der Wahlkreise ab 2024 von 299 auf 280 reduziert wird und eine Kommission über weitere Reformschritte beraten soll (19/22504). Das Ergebnis sind 736 Abgeordnete seit der Wahl von 2021, davon 34 mit Überhang- und 104 mit Ausgleichsmandaten. Auch wenn Prognosen, die Abgeordnetenzahl könne auf mehr als 800 ansteigen, nicht eintrafen, liegt das Parlament damit aktuell um 138 Sitze über seiner bisherigen Sollstärke.

Union favorisiert "Graben-Wahlrecht"

In der 2020 beschlossenen Kommission kam von Unionsseite erneut der Vorschlag eines "Graben-Wahlrechts". Danach würde beispielsweise die Hälfte der Sitze von direkt gewählten Wahlkreissiegern besetzt und nur die restlichen Mandate entsprechend dem Zweitstimmenergebnis mit Listenkandidaten - eine klare Stärkung des Mehrheitswahlprinzips, das die Unionsparteien seit den Zeiten des Parlamentarischen Rats bevorzugten und von dem sie auch derzeit profitiert hätten. So wurde insbesondere der CSU vorgeworfen, um des eigenen Vorteils willen jede halbwegs konsensfähige Lösung zu blockieren.

Die Mehrheit liegt jedoch derzeit bei der Ampel, die den erneut einbrachten AfD-Vorschlag (20/5360) aufgriff, auf die Zuteilung von Überhang- und Ausgleichsmandaten zu verzichten und dafür Wahlkreissieger gegebenenfalls leer ausgehen zu lassen (20/5370). Damit sollte die Abgeordnetenzahl künftig verlässlich auf 598 begrenzt werden.

Dagegen schlug die Union im Januar vor, entsprechend dem einstigen Schäuble-Vorschlag die Zahl der Wahlkreise auf 270 zu reduzieren, zudem die Zahl unausgeglichener Überhänge auf bis zu 15 zu erhöhen und die Grundmandatsklausel "anzuheben" (20/5353). Danach sollten bei der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten nur Parteien berücksichtigt werden, die mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen oder in mindestens fünf statt bisher drei Wahlkreisen einen Sitz errungen haben. Damit wäre Die Linke, die 2021 nur 4,9 Prozent der Listenstimmen einfuhr, aber drei Direktmandate gewann und dadurch ihrem Zweitstimmenergebnis entsprechend mit 39 Abgeordneten im Parlament sitzt, dort nicht mehr vertreten.

Koalition streicht überraschend die Grundmandatsklausel

Die AfD sah in ihrem Gesetzentwurf gar vor, die Grundmandatskausel ganz zu kippen. Überraschend nahm auch die Ampel vergangene Woche einen Wegfall der Klausel in ihren Gesetzentwurf auf; zugleich hob sie die angestrebte Regelgröße des Bundestags von 598 auf 630 an, um so die Zahl der Wahlkreise ohne Direktmandate möglichst zu reduzieren.

Auch die Grundmandatsklausel findet sich bereits im Wahlgesetz von 1949. Danach galt die Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht für Parteien, die ein Direktmandat gewannen. Zur Wahl 1957 wurde diese Hürde auf drei Direktmandate angehoben, ab denen eine Partei mit weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen gleichwohl in der Stärke ihres Listenergebnisses ins Parlament einziehen konnte. Vor 2021 kam die Grundmandatsklausel nur bei drei Wahlen zum Tragen. So stellten 1953 die Deutsche Partei (DP) mit 3,3 Prozent der Zweitstimmen, aber zehn Direktmandaten insgesamt 15 Abgeordnete und die Zentrumspartei mit 0,8 Prozent, aber einem Direktmandat drei Parlamentarier. Vier Jahre später kam die DP mit einem Zweitstimmenanteil von 3,4 Prozent und sechs Direktmandaten auf insgesamt 17 Sitze. 1994 erhielt die PDS bei 4,4 Prozent der Zweitstimmen und vier Direktmandaten insgesamt 17 Sitze.

Wegfall der Grundmandatsklausel könnte CSU und Die Linke treffen

Der jetzt vorgesehene Wegfall der Grundmandatsklausel ist aber nicht nur für Die Linke brisant, sondern auch für die CSU, die bei Wahlen bekanntlich nur in Bayern antritt. Dabei gewann sie 2021 zwar von den 46 bayerischen Direktmandaten ganze 45 (davon elf Überhangmandate), lag aber mit einem bundesweiten Zweitstimmenanteil von 5,2 Prozent nur knapp über der Fünf-Prozent-Hürde. Kein Wunder also, dass der CSU-Vorsitzende, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, vergangene Woche ebenso eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das neue Wahlrecht ankündigte wie in der Schlussdebatte die CDU/CSU-Fraktion. Aus der FDP kamen zugleich Signale, nach der "Grundentscheidung" für weitere Gespräche offen zu sein.

Am Ende votierten 399 Abgeordnete für die modifizierte Koalitionsvorlage (20/6015), für deren Verabschiedung die einfache Mehrheit ausreichte; 261 stimmten mit Nein. Das lange Ringen um die Reform des Wahlrechts dürfte damit kaum beendet sein.

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