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Foto: picture alliance/dpa | Uli Deck
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts verkündet das Urteil über die Wahlrechtsreform der Ampelkoalition. Danach ist das Bundeswahlgesetz überwiegend verfassungsgemäß – gerügt wurde der Wegfall der Grundmandatsklausel.

Wahlrechtsreform teils verfassungswidrig : Bundestag wird kleiner, Grundmandatsklausel bleibt vorerst

Das Bundesverfassungsgericht lässt die Wahlrechtsreform der Ampel im Wesentlichen passieren. Die Ausgestaltung der Fünf-Prozent-Hürde ist jedoch verfassungswidrig.

31.07.2024
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6 Min

Das Bundesverfassungsgericht hat am Dienstag das neue Bundestags-Wahlrecht im Kern bestätigt. Allerdings erklärte das Gericht die Ausgestaltung der Fünf-Prozent-Hürde nach Streichung der Grundmandateklausel für verfassungswidrig.

Karlsruhe urteilte über das neue Wahlrecht, das der Bundestag im März 2023 mit den Stimmen der Ampel-Koalition beschlossen hat. Die Ampel wollte damit den Bundestag, der aktuell 733 Abgeordnete umfasst, dauerhaft auf 630 Sitze verkleinern. Deshalb wurden Überhang- und Ausgleichsmandate abgeschafft, ebenso die Grundmandateklausel. Das Konzept war aber sehr umstritten. Gegen das reformierte Bundeswahlgesetz klagten beim Bundesverfassungsgericht die CSU, das Land Bayern, die CDU/CSU-Abgeordneten im Bundestag, die Linkspartei, die (einstige) Linksfraktion im Bundestag, Linken-Wähler und Anhänger des Vereins "Mehr Demokratie".

Fünf-Prozent-Klausel ohne Grundmandatsklausel ist verfassungswidrig

Gerügt hat das Bundesverfassungsgericht nun lediglich den Wegfall der Grundmandateklausel. Diese Regelung ermöglichte bisher Parteien den Einzug in den Bundestag, wenn sie zwar an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, aber mindestens drei Direktmandate in den Wahlkreisen holen. 2021 profitierte die Linke davon, die bundesweit nur 4,9 Prozent der Stimmen erreichte. Die CSU wäre mit 5,2 Prozent der Stimmen fast auch auf die Regelung angewiesen gewesen.

So reagierten die Kläger von CDU, CSU und Linke

⚫️ Der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Friedrich Merz, begrüßte das Urteil. "Damit ist der Versuch der Ampel, mit Hilfe des Wahlrechts politische Konkurrenten auszuschalten, vor dem Bundesverfassungsgericht erwartungsgemäß gescheitert", sagte Merz mit Blick auf den Teil des Urteils, der sich auf die Abschaffung der Grundmandatsklausel bezieht. Weniger erfreut zeigte sich Merz über die Ausführungen der Richterinnen und Richter zur Zweitstimmendeckung. Aus Sicht der Union werde mit dem Wahlrecht der Ampel das Wahlkreismandat entwertet. 

🔵⚪️ Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder zeigte sich erfreut:  "Das ist ein klarer Erfolg für die CSU und Bayern - und eine Klatsche für die Ampel", sagte Söder. 

🟣Auch die Bundesgeschäftsführerin der Partei Die Linke, Katina Schubert, begrüßte das Urteil . "Die heutige Entscheidung stärkt die Vielfalt der politischen Repräsentation im Bundestag und stellt sicher, dass möglichst viele Stimmen berücksichtigt werden", so Schubert.



Das Verfassungsgericht entschied, dass die Fünf-Prozent-Klausel ohne Grundmandatsklausel verfassungswidrig ist. Grundsätzlich sei die Hürde zwar gerechtfertigt, um die Funktionsfähigkeit des Bundestags zu sichern. Bei der CSU sei die Fünf-Prozent-Klausel aber nicht nötig, weil ihr Einzug in den Bundestag nicht zur Zersplitterung des Parlaments beitrage. Traditionell schließe sich die CSU mit der CDU zu einer gemeinsamen Fraktion zusammen. Es bestehe die "hinreichende Wahrscheinlichkeit" dass CDU und CSU auch nach der nächsten Bundestagswahl eine Fraktionsgemeinschaft bilden.

Keine Einwände gegen Verzicht auf Überhang- und Ausgleichsmandate

Keine Einwände hatte das Verfassungsgericht jedoch gegen den Kern des neuen Wahlrechts, wonach die Parteien nur noch so viele Sitze im Bundestag erhalten, wie ihnen nach dem Zweitstimmen-Ergebnis zustehen. Dies soll künftig auch dann gelten, wenn eine Partei mehr Wahlkreise gewonnen hat, als ihr Sitze zustehen. Bisher bekam sie dann Überhangmandate und die anderen Parteien bekamen Ausgleichsmandate, damit das Wahlergebnis nicht verzerrt wird. So wurde der Bundestag deutlich größer als eigentlich geplant.

Doch künftig gibt es in dieser Konstellation keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr. Vielmehr gehen die prozentual schwächsten Wahlkreisgewinner leer aus. Wer in seinem Wahlkreis mit 40 Prozent der Stimmen gewinnt, erhält sicher ein Mandat, wer den Erfolg nur mit 22 Prozent erzielt, geht tendenziell leer aus. Diese "Zweitstimmendeckung" kann zwar dazu führen, dass es nicht mehr in allen Wahlkreisen direkt gewählte Abgeordnete gibt. Dies verstößt aber nicht gegen das Grundgesetz, so die Richter, das dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum gebe. "Der Gesetzgeber kann Änderungen einführen, die ein Umdenken der Wähler erfordern", sagte Doris König, die Vizepräsidentin des Gerichts.

Bundestag kann jetzt die Fünf-Prozent-Klausel neu regeln, muss aber nicht

Auch das Verfahren bei der Neufassung des Wahlgesetzes wurde vom Verfassungsgericht nicht beanstandet. Die Kläger hatten eine Verletzung von Abgeordnetenrechten geltend gemacht, weil die Grundmandatsklausel erst kurz vor Beschluss des Gesetzes überraschend gestrichen wurde. "Die parlamentarische Beratung dient gerade der Möglichkeit, einen Entwurf zu verändern", sagte jedoch Richterin König.

So reagierten die Ampel-Koalitionäre

🔴 Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Dirk Wiese sagte, mit der Verkleinerung des Bundestages sei der Regierungskoalition das gelungen, "an dem eine 16 Jahre unionsgeführte Regierung insbesondere aufgrund der Weigerung der CSU gescheitert ist"

🟢 Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Till Steffen, bezeichnete die Verkleinerung als "großen Erfolg". "Dies haben wir gegen den erbitterten Widerstand insbesondere der CSU durchgesetzt", so Streffen. Beim Thema Grundmandatsklausel plädierte der Grünen-Abgeordnete für Bedenkzeit. "Von Schnellschüssen vor der nächsten Bundestagswahl raten wir ab", so Steffen.

🟡​ Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende, Konstantin Kuhle, betonte, das Bundesverfassungsgericht habe das "Herzstück der Reform" bestätigt. Mit Blick auf die Grundmandatsklausel habe das Gericht mit seiner Entscheidung "endlich für die nötige Klarheit" gesorgt, so Kuhle. 



Wie geht es nun weiter? Der Gesetzgeber kann jetzt die Fünf-Prozent-Klausel neu regeln, muss dies aber nicht. Das Gericht hat keine Frist gesetzt. Bis zu einer Neuregelung gilt wieder die alte Grundmandatsklausel. Das heißt: Wenn eine Partei nur 4,8 oder 2,8 Prozent der Zweitstimmen erhält, aber in drei Wahlkreisen am meisten Erststimmen erhält, kann sie mit allen ihr prozentual zustehenden Abgeordneten in den Bundestag einziehen.

Dies gilt nicht nur für die CSU, sondern auch für die Linke und andere Parteien. Die Richter betonten, dass die alte Grundmandatsklausel als Übergangsregelung besonders geeignet ist, weil sie den Wählern und Wählerinnen bereits bekannt ist. Sie stärke das Vertrauen, "dass durch die Wahlrechtsreform keine Partei benachteiligt wird", betonte Richterin Astrid Wallrabenstein, die das Urteil vorbereitet hatte.

Neuregelung der Fünf-Prozent-Klausel wird Projekt für die nächste Wahlperiode

Wenn der Bundestag die Rückkehr der alten Grundmandatsklausel verhindern will, ist dies möglich. Das Parlament müsste die Neuregelung dann aber sehr schnell beschließen, denn die Vorbereitungen auf die Bundestagswahl 2025 haben bereits begonnen. Wahrscheinlich ist ein deratiger Schnellschuss nicht.

Die Neuregelung der Fünf-Prozent-Klausel wird wohl eher ein Projekt für die nächste Wahlperiode. Der Bundestag hat dabei eine Vielzahl von Möglichkeiten. So könnte er zum Beispiel mehr als drei Grundmandate verlangen, etwa fünf oder 15 Mandate. Alternativ könnte das Parlament aber auch die Fünf-Prozent-Hürde auf vier oder drei Prozent absenken oder Parteien, die wie CDU und CSU gemeinsam eine große Fraktion bilden, das gemeinsame Überspringen der Hürde erlauben. Als weitere Option erwähnten die Richter und Richterinnen ein Modell, bei dem so viele Parteien Mandate im Bundestag erhalten, bis 95 Prozent der Wählerinnen und Wähler vertreten sind. Der Gestaltungsspielraum des Bundestags ist offensichtlich sehr groß.

So reagierte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas

🗳️ Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) wertete die Entscheidung der Karlsruher Richter als Bestätigung für das "Herzstück des neuen Wahlrechts". 

🔔 Dass die Zahl der Abgeordneten künftig auf 630 begrenzt werde, sei ein wichtiges Signal an die Wählerinnen und Wähler: "Es wird kein unkontrolliertes Anwachsen des Deutschen Bundestages mehr geben", sagte Bas. Als Bundestagspräsidentin begrüße sie dies, "weil dies Planungssicherheit schafft, Kosten begrenzt und die Arbeitsfähigkeit des Bundestages stärkt". 



Das Urteil war am Bundesverfassungsgericht nicht sehr umstritten. Die Klagen der CDU/CSU gegen die Zweitstimmen-Deckelung wurden einstimmig abgelehnt. Der Wegfall der Grundmandatsklausel wurde mit 7:1-Richterstimmen beanstandet.

Erfolg hatten bei der Grundmandatsklausel die abstrakten Normenkontrollen von CDU/CSU und Bayern sowie die Organklage der CSU und die Verfassungsbeschwerden von Linken- und Mehr Demokratie-Wählern. Die Organklagen von Links-Partei und Links-Fraktion waren unzulässig.

Urteil war schon am Montagabend aufrufbar

Das Urteil war schon am späten Montagabend vor der Verkündung bekannt geworden. Ein Hobby-Wahlforscher und Mathematiker konnte es von den Servern in Karlsruhe abrufen. Nachdem er den Link beim Netzwerk Bluesky veröffentlichte, machte das Urteil schnell die Runde, auch Medien wie der Spiegel berichteten über den Leak und machten so das Urteil vorab bekannt.

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