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Geschäftsordnung des Bundestages : Das Parlament regiert sich selbst

Kaum ein Regelwerk ist so beständig und muss sich doch immer wieder bewähren wie die Geschäftsordnung des Bundestages. Über eine lange Geschichte.

29.08.2024
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6 Min

"Er gibt sich eine Geschäftsordnung", schreibt das Grundgesetz in Artikel 40 und meint damit den Bundestag. Es formuliert damit etwas salopp ein Fundament der parlamentarischen Demokratie. Das Grundgesetz sichert den Abgeordneten ihre Geschäftsordnungsautonomie, ihre eigenen Regeln bestimmen nur sie selbst. Um im Bild zu bleiben: Diese Garantie ist auch fundamental für die Gewaltenteilung, denn nur durch sie kann die Legislative ihre Rolle als eigenständige Staatsgewalt einnehmen. In jeder Wahlperiode ist es deshalb die Drucksache mit der Nummer 1, mit der sich der Bundestag zunächst einmal eine Geschäftsordnung (GO) gibt.

Die Geschäftsordnung ist kein Gesetz - aber was ist sie dann?

Trotz ihrer Bedeutung ist die Frage, was die Geschäftsordnung eigentlich für ein Regelwerk ist, nur schwer fassbar. Sie ist kein Gesetz, so viel scheint klar. Das Bundesverfassungsgericht nennt sie eine "autonome Satzung", in der Rechtswissenschaft wird sie zum Teil als Verfassungssatzung beschrieben, andere Stimmen kommen ein wenig hilflos zu dem Schluss, sie sei ein "Rechtssatz eigener Art". Die Diskussion ist mehr als eine terminologische, in ihr steckt der Kern der Parlamentsautonomie. Das Parlament entscheidet selbst über die Regeln des politischen Miteinanders; die Abgeordneten sind damit Normgeber, Normanwender und Betroffene der Norm in einer Person. Geschäftsordnungen sind deshalb auch Ausdruck des Selbstverständnisses eines Parlamentes.

Foto: DBT/ Florian Gaertner/ photothek.net

Das Parlament entscheidet selbst über die Regeln des politischen Miteinanders; die Abgeordneten sind damit Normgeber, Normanwender und Betroffene der Norm in einer Person. Geschäftsordnungen sind Ausdruck des Selbstverständnisses eines Parlamentes.

Änderungen einer Geschäftsordnung können dabei den tatsächlichen Zustand eines parlamentarischen Systems offenbaren. So wäre ohne eine entsprechende Änderung im Reichstag die folgenreiche Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz am 23. März 1933 deutlich erschwert worden. Das Problem der Nationalsozialisten damals: Geschäftsordnungsrechtlich hätten zwei Drittel der Mitglieder des Reichstages bei der Abstimmung anwesend sein müssen. Durch die zwangsläufige Abwesenheit der bereits verhafteten kommunistischen Abgeordneten hätte ein Fernbleiben der Sozialdemokraten, die sich gegen das Gesetz stemmten, fast schon ausgereicht, um eine gültige Abstimmung zu verhindern. Eine Änderung der Geschäftsordnung musste also her. Sie läutete das Ende der Weimarer Demokratie ein, bevor das Ermächtigungsgesetz das Ende besiegelte.

Eine große Kontinuität zeichnet die Geschäftsordnung aus

Dennoch hat der erste Bundestag nach seiner Konstituierung 1949 zunächst ausgerechnet die Geschäftsordnung des Reichstages im Wesentlichen weiter angewendet. Erst zwei Jahre später, am 6. Dezember 1951, gab man sich in Bonn ein eigenes Regelwerk. Eine große Kontinuität zeichnet die Geschäftsordnung allerdings aus. In seinem Vorwort zur ersten Geschäftsordnung erläuterte mit Paul Löbe der letzte demokratische Reichstags- und erste Bonner Alterspräsident, dass auch die neue Geschäftsordnung sich "in den meisten ihrer Bestimmungen" zurückführen lasse bis zum Norddeutschen Reichstag 1867 und diese Regelungen weitestgehend bis zur Weimarer Zeit Bestand gehabt hätten, bis eben "in der Nazizeit die Lösung der politischen Fragen nicht durch Beratungen, sondern durch Kommando erfolgte".


„Böser Verdacht umschleicht beständig das Geheimnis.“
Jeremy Bentham (1748-1832) zur Notwendigkeit der Parlaments-Öffentlichkeit

Der Ursprung aller dieser Geschäftsordnungen entstammt dabei dem Mutterland des Parlamentarismus. Jeremy Bentham (1749 bis 1832) hatte in England 1791 erstmals das dortige und bis dato ungeschriebene Geschäftsordnungsrecht kodifiziert, also systematisch als Regelwerk zusammengestellt. Genau wie der Parlamentarismus insgesamt schaffte mit Benthams "Tactik oder Theorie des Geschäftsgangs in deliberierenden Volksständeversammlungen" (deutscher Titel) auch die Idee einer Geschäftsordnung den Sprung über den Kanal.

System von Einbußen bei Abwesenheit sichert die Anwesenheit der Abgeordneten

Eine Vielzahl heutiger Regelungen ist in Benthams Werk angelegt. So schrieb er auf, dass die Sitzungen öffentlich sein müssen, weil nur durch die "Oberaufsicht des Publikums" das Vertrauen und die Zustimmung des Volkes zu den Gesetzen sichergestellt sei. Für die Gesetzgebung verfasste Bentham die Vorstellung der heute noch üblichen drei Lesungen, bei Bentham sind es "Vorlesungen", sowie die Notwendigkeit von Ausschussberatungen. Auch die Anwesenheit der Abgeordneten sicherte Benthams Regelwerk: durch ein System von Einbußen bei Abwesenheit; kaum anders macht es die heutige Geschäftsordnung.

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Ähnlich schwer wie die Frage nach ihrer Rechtsnatur ist auch die Frage zu beantworten, was eigentlich genau "die Geschäftsordnung" ist. Zunächst einmal, soviel ist klar, das so überschriebene Regelwerk, die so genannte formelle Geschäftsordnung. Dann aber treten eine Vielzahl von geschriebenen und ungeschriebenen Regelungen hinzu. Diese Geschäftsordnung im so genannten “materiellen” Sinne enthält Gesetze wie das Abgeordnetengesetz, das Gesetz über die Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse oder auch das Wahlprüfungsgesetz, hin und wieder ist das Geschäftsordnungsrecht also sogar ein Gesetz. Dieser höchsten Form der Kodifikation stehen das ungeschriebene Gewohnheitsrecht und die Parlamentsbräuche gegenüber. Hierzu zählen Regeln über die angemessene Kleiderordnung, der Untersagung von Kritik am sitzungsleitenden Präsidenten, interfraktionelle Vereinbarungen oder die Parlamentstradition, dass der Vorsitz im Haushaltsausschuss von der größten Oppositionsfraktion gestellt wird.

Starke Verankerung von Minderheitenrechten

Nicht nur bei der Frage dieses Vorsitzes wird die starke Verankerung von Minderheitenrechten in der Geschäftsordnung deutlich. Das Fragerecht ist ein weiteres solches Recht, wobei vor allem die Regierungsbefragung seit mehr als einem Jahrzehnt immer wieder in der Diskussion ist. Das Ziel dabei: Eine lebendigere Kontrolle der Bundesregierung durch die Abgeordneten ermöglichen. Auch dort schweift der Blick häufig nach England, wo es bei der "Prime Minister's Questions" im britischen Unterhaus zu offenen Rededuellen zwischen Opposition und Regierungschef kommt. Im Bundestag gab es bis 2018 überhaupt keine Möglichkeit, den Kanzler im Bundestag direkt zu befragen, jeder Journalist auf der Bundespressekonferenz war gegenüber den Abgeordneten im Vorteil. Erst im Zuge einer Änderung der Geschäftsordnung stellte sich am 6. Juni 2018 erstmals ein Kanzler der direkten Befragung im Bundestag, es war mit Angela Merkel eine Kanzlerin.

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So sehr diese Änderung auch im Fokus stand, den Kern der Geschäftsordnung macht etwas anderes aus. Das Parlament soll handlungsfähig sein und Entscheidungen möglichst effektiv treffen. In der Konsequenz beschränkt die Geschäftsordnung deshalb sogar die Rechte einzelner Abgeordneter. So haben nur Fraktionen oder eben eine entsprechend große Gruppe von mindestens fünf Prozent der Abgeordneten im Bundestag bestimmte parlamentarische Rechte, beispielsweise Gesetzentwürfe einzubringen. Die Geschäftsordnung nutzt damit die Koordinierungs-, Integrations- und Kanalisierungsfunktion von Fraktionen, um eine ausreichende Entscheidungsfähigkeit des Bundestages sicherzustellen. Für die Geschäftsordnung ist der Bundestag ein Parlament der Fraktionen, auch wenn diese im Grundgesetz nur ganz am Rande beim Gemeinsamen Ausschuss erwähnt werden.

In den vergangenen 75 Jahren wurde die Geschäftsordnung kaum häufiger geändert als eben dieses Grundgesetz, aber genau wie in der Verfassung brauchte es immer wieder Anpassungen und Änderungen der parlamentarischen Spielregeln durch veränderte Rahmenbedingungen. Im Bundestag gab es nach 1951 bislang zwei große Reformen, nämlich die grundsätzlichen Überarbeitungen von 1970 und 1980.

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Doch auch dazwischen gab es eine Reihe von bedeutsamen Änderungen. Einige davon zeitlich befristet, wie die Ausweitung der Minderheitenrechte durch die nach der Wahl 2013 sehr große Koalition aus CDU/CSU und SPD oder die Änderungen in der Corona-Pandemie. Der Bundestag sicherte seine Beratungsfähigkeit auch bei einer befürchteten hohen Infektionsquote durch die Teilnahme von Abgeordneten an Ausschusssitzungen über elektronische Kommunikationsmittel. Zu Fernabstimmungen im Plenum konnte sich der Bundestag auch in der Pandemie nicht durchringen, gesenkt wurde dafür zeitlich befristet das Quorum für die Beschlussfähigkeit auf ein Viertel der Abgeordneten.

Der Ton der Debatten wird schärfer - das Ordnungsrecht auch

Über die Ausgestaltung eines erst 2011 eingeführten und damit noch jungen Instrumentes der Geschäftsordnung wird auch aktuell wieder diskutiert: das Ordnungsgeld. Eingeführt wurde es von CDU/CSU, SPD und FDP als Reaktion auf die damals zunehmenden Störungen der parlamentarischen Debatte durch Plakate und Kleidungsaufdrucke. 

Bei der jetzigen Reform geht es um den Ton der Debatten. Der Bundestag berät eine Verschärfung beim Ordnungsgeld, die sowohl eine Verdopplung der Strafe vorsieht als auch einen Automatismus bei der Verhängung. Drei Ordnungsrufe innerhalb von drei Sitzungswochen sollen zu einem Ordnungsgeld führen. Erstmals sollen zudem Ausschussvorsitzende bei einer Störung durch Abgeordnete Maßnahmen zur Wahrung der parlamentarischen Ordnung ergreifen können. In diesem Teil der Reform zeigt sich wieder die Besonderheit der Geschäftsordnung: Das Parlament schützt sich mit solchen Regelungen vor sich selbst.