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Stilfragen im Bundestag : Wie Hosenanzüge, Oberteile und Krawatten für Diskussionen sorgten

Eine ausdrückliche Kleiderordnung für Abgeordnete gibt es im Bundestag nicht. Dennoch hat die Garderobenwahl schon für manchen Wirbel gesorgt.

29.08.2024
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5 Min

Als Tessa Ganserer (Grüne) im vergangenen Jahr bei einer Anhörung des Familienausschusses unter einem transparenten Oberteil neben Haut auch einen schwarzen BH präsentierte, war die Aufregung im Parlament und in den sozialen Medien groß; selbst der Ältestenrat befasste sich mit dem Auftritt. Zwar gibt es im Bundestag keine ausdrückliche Kleiderordnung, doch sind auch die Abgeordneten gehalten, die Würde des Hauses zu achten und zu wahren - und die sah so mancher durch Ganserers Garderobe gestört.

Meinungsbekundungen mit bedruckten Shirts sind untersagt

Die Kleidung von Abgeordneten war dabei nicht zum ersten Mal ein Thema im Ältestenrat. 2015 etwa beschwerte sich Alexander Ulrich (Linke) über Dorothee Bär (CSU), die im Plenarsaal einen Tag nach einer Niederlage des FC Bayern München aus Solidarität dessen Trikot unter dem Blazer trug. Ulrich soll sich an dem Telekom-Logo des Bayern-Sponsors auf Bärs Trikot gestört haben, und Meinungsbekundungen etwa mit bedruckten T-Shirts untersagt die Hausordnung des Parlaments.

Die erste Frau in Hosen im Bundestag: Lenelotte von Bothmer am 15. April 1970.   Foto: picture-alliance / Egon Steiner

Das bekam wiederum Ulrichs Linke alleine 2010 gleich zweimal zu spüren, als Mitglieder ihrer Fraktion bei einer Afghanistan-Debatte im Plenarsaal Protestplakate hochhielten und sich an gleicher Stelle Monate später mit T-Shirts und Schildern gegen das Bahnprojekt "Stuttgart 21" wandten: In beiden Fällen verwies sie der damalige Parlamentspräsident Norbert Lammert (CDU) des Saals. Nicht anders erging es 2017 drei Grünen, die im Plenum in T-Shirts mit der Aufschrift "FreeDeniz" für die Freilassung eines in der Türkei inhaftierten Journalisten demonstrierten.

Natürlich können Kleidungsstücke auch ohne Schriftzug Statement oder Provokation sein; man denke nur an die legendären Turnschuhe des späteren Vizekanzlers Joschka Fischer bei seiner Vereidigung als erster Grünen-Minister 1985 im hessischen Landtag. Als Außenminister bevorzugte Fischer dann den gediegenen Dreiteiler, die weißen Sportschuhe kamen ins Museum.

Streit um Schlipspflicht für Schriftführer

Nicht nur das Tragen bestimmter Kleidungsstücke kann im Parlament die Gemüter erhitzen, sondern ebenso der Verzicht darauf. Legendär etwa ist im Bundestag der vor gut zehn Jahren beendete "Krawattenstreit" um die auch bei TV-Übertragungen aus dem Plenarsaal neben dem Präsidenten gut zu sehenden Schriftführer. Deren damaliger Obmann Jens Koeppen (CDU) hatte darauf beharrt, dass männliche Abgeordnete zur Wahrung der Würde des Hauses eine Krawatte "oder dem Entsprechendes" zu tragen hätten. 2011 durften die Schriftführer Andrej Hunko (Linke) und Sven-Christian Kindler (Grüne) nicht wie geplant neben dem Bundestagspräsidenten Platz nehmen, weil sie ohne Schlips erschienen waren; weitere Abgeordnete teilten ihr Schicksal oder traten von sich aus von ihrem Schriftführer-Amt zurück, weil sie sich der Krawattenpflicht nicht beugen wollten.


„Hat der keine Krawatte?“
Kommentar über Gerhard Schröder (SPD)

2014 berichtete dann der "Spiegel", das Präsidium habe auf Antrag der Vizepräsidentinnen Claudia Roth (Grüne) und Petra Pau (Linke) beschlossen, den Krawattenzwang für Schriftführer abzuschaffen. Einen Tag später stellte der Bundestag via Pressemitteilung fest, dass es weder einen Krawattenzwang im Plenarsaal gebe noch einen Beschluss im Präsidium gegeben habe, die bisherigen Regelungen für die Schriftführer bei der Sitzungsleitung aufzugeben, doch das Thema war durch.

Krawatte als Ausdruck des Respekts vor einem Verfassungsorgan

Als erster Redner im Plenum ohne Schlips gilt übrigens Gerhard Schröder (SPD). "Hat der keine Krawatte?" schallte es dem Parlamentsneuling und späteren Bundeskanzler 1981 am Rednerpult aus den Reihen der Union entgegen, noch bevor er das Wort ergriffen hatte. Diese Frage würden die Jugendlichen, um die es in der Debatte ging, mit Sicherheit nicht verstehen, gab er zurück und hielt der Union vor: “Ihr Verständnis von Würde ist ein Verständnis, das sich auf die Form bezieht. Unser Verständnis von Würde des Parlaments, von Würde des Parlamentarismus ist ein Verständnis, das sich auf Inhalte bezieht.”

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Dass sich das auch anders sehen ließ, sollte Schröder 2008 beim Staatsakt für seine verstorbene Parteifreundin Annemarie Renger deutlich machen, die 1972 als erste Frau an die Spitze des Parlaments gewählt worden war. Er habe 1980 als frisch gewählter Abgeordneter erstmals im Bundestag gesessen und dabei als Juso-Vorsitzender auf eine Krawatte verzichtet, blickte Schröder auf seine erste Begegnung mit der damaligen Bundestagsvizepräsidentin zurück: "Genosse Schröder", habe sie ihm gesagt, "wenn morgen die Wahl des Bundeskanzlers ist, bindest Du Dir aber eine Krawatte um, wie es sich gehört." Am folgenden Tag sei er "natürlich korrekt gekleidet" erschienen, und mittlerweile sei ihm klar, dass es Renger nicht um Äußerlichkeiten gegangen sei: "Für sie war die korrekte Kleidung Ausdruck des Respekts vor einem Verfassungsorgan des demokratischen Deutschlands. Die Institutionen der parlamentarischen Demokratie waren zu achten".

Eine Frau mit Hose sorgte für einen Shitstorm

Lange vor Schröders binderlosem Auftritt war Lenelotte von Bothmer (SPD) zur parlamentarischen Mode-Rebellin geworden, die 1970 als erste demonstrierte, dass im Hohen Haus nicht nur Männer "die Hosen anhaben": Vorausgegangen sein soll die Äußerung des konservativen Bundestagsvizepräsidenten Richard Jaeger (CSU), er werde keine Frau in Hosen in den Plenarsaal und schon gar nicht ans Rednerpult lassen.

Jaegers FDP-Kollegin im Präsidium, Liselotte Funke, animierte daraufhin der Legende nach die in ihren Augen figürlich besser geeignete Bothmer zum Eklat: Im April betrat mit der Sozialdemokratin erstmals eine Frau in einem Hosenanzug den Plenarsaal, im Oktober trat sie damit ans Rednerpult. Die Folge war ein analoger Shitstorm; in Briefen "von überall her" musste sie von einem "würdelosen Weib" lesen und von der Vermutung, dass sie beim nächsten Mal "oben ohne" erscheinen werde.

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Jahrzehnte später störte sich auch im Bundestag niemand mehr an der aus Hose und Blazer bestehenden Arbeitskleidung von Langzeit-Kanzlerin Angela Merkel (CDU); nur ihr Dekolleté bei der Eröffnung der Osloer Oper sorgte 2008 noch für einige Diskussionen in der Republik. 2014 dagegen mokierte sich Sylvia Kotting-Uhl (Grüne) auf Twitter über einen Dirndl-Auftritt von Dorothee Bär (die mit dem Bayern-Trikot) im Plenum: "Die Bayern finden's passend, der Rest der Welt rückständig."

Bär wiederum dachte 2019 über eine "Berliner Variante für das Dirndl" nach und erschien im Ergebnis in einem Latex-Kleid. Zur Gala zum Deutschen Computerspielpreis wohlgemerkt, nicht im Bundestag. Sonst wäre das wohl auch Thema im Ältestenrat geworden.