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Foto: DBT / Julia Nowak/ JUNOPHOTO
Insgesamt ist der Bundestag seit seiner konstituierenden Sitzung am 7. September 1949 in Bonn bis heute zu 4527 Plenarsitzungen zusammengekommen. Seit 1999 tagt er in Berlin.

Rekorde, Skandale und historische Entscheidungen : 8 Fakten und Kuriositäten aus 75 Jahren Bundestag

In 75 Jahren kommen einige überraschende Episoden zusammen. Von einem Kleidungsstück als Politikum, rekordverdächtigen Rednern und tausenden Plenarsitzungen.

28.08.2024
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7 Min

Vor 75 Jahren stand Deutschland an einem historischen Wendepunkt: Aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges entstand am 23. Mai 1949 mit der Verkündung des Grundgesetzes die Bundesrepublik. Damit war der Weg geebnet für die ersten Bundestagswahlen am 14. August 1949 und die anschließende konstituierende Sitzung des ersten Deutschen Bundestages am 7. September 1949 in Bonn. 

Zum 75. Jubiläum des Bundestages haben wir überraschende und vielleicht auch unerwartete Fakten zusammengestellt, die die Entwicklung und das Wirken des Parlaments beleuchten. Sie handeln von einer Hose, die das Parlament in Aufregung versetzte, einer gerade mal einminütigen Sitzung und über 31.000 Stunden Sitzungszeit.

1. Das sind die dienstältesten Abgeordneten 

Für wie viele Legislaturperioden die Abgeordneten im Bundestag sitzen, hängt davon ab, wie oft sie gewählt werden. Manche sind nur für eine Legislaturperiode, also vier Jahre, im Parlament, während andere über Jahrzehnte hinweg das politische Geschehen mitgestalten. Die dienstältesten Abgeordneten sind nicht nur besonders erfahren, sondern auch einflussreich. Häufig übernehmen sie repräsentative Aufgaben, wie die Eröffnung der konstituierenden Sitzung des Bundestages als Alterspräsident

Der unangefochtene Rekordhalter ist der am 26. Dezember 2023 verstorbene ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU). Mit beeindruckenden 51,1 Jahren Parlamentszugehörigkeit – von 1972 bis zu seinem Tod – prägte er die deutsche Politik wie kaum ein anderer. Ganze 14 Mal in Folge gewann er das Direktmandat im Wahlkreis Offenburg. Den zweiten Platz belegt ebenfalls ein ehemaliger Bundestagspräsident. Richard Stücklen (CSU) gehörte dem Bundestag 41 Jahre an. Ihm folgt Heinz Riesenhuber von der CDU mit 40,9 Jahren.

Unter den Frauen führt Annemarie Renger (SPD) die Liste der dienstältesten Abgeordneten an. Die erste Präsidentin des Deutschen Bundestages war von 1953 bis 1990 fast 37 Jahre lang als Abgeordnete tätig. Auch die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zählt mit 30,9 Jahren Parlamentszugehörigkeit zu den erfahrensten Politikerinnen. Gemeinsam mit Ulla Schmidt (SPD) teilt sie sich den dritten Platz. Die ehemalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) steht mit 36,9 Jahren auf dem zweiten Platz.


2. Zwischen 1972 und 1976 waren nur 5,8 Prozent der Abgeordneten Frauen

Obwohl Frauen rund die Hälfte der deutschen Bevölkerung ausmachen, spiegelt sich das auch nach 75 Jahren nicht in der Zusammensetzung des Bundestages wider. In der aktuellen Legislatur liegt der Anteil der weiblichen Abgeordneten bei rund 34,8 Prozent. Parität im Parlament bleibt Zukunftsmusik. Der höchste Frauenanteil wurde in der 18. Wahlperiode (2013-2017) mit 36,5 Prozent erreicht. Den geringsten Frauenanteil hingegen verzeichnete der Bundestag in der 7. Wahlperiode (1972-1976) mit lediglich 5,8 Prozent.

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Unter den Frauen im Bundestag befinden sich zahlreiche bemerkenswerte Persönlichkeiten. Dazu zählen unter anderem Jeanette Wolf (SPD), die als Jüdin den Holocaust überlebte und sich anschließend im Bundestag für Wiedergutmachungen für NS-Opfer einsetzte, oder die erste Bundeskanzlerin Deutschlands Angela Merkel (CDU). Die erste Bundestagspräsidentin Annemarie Renger (SPD) oder die erste gehörlose Abgeordnete Heike Heubach (SPD) sind nur zwei weitere Namen auf einer langen Liste.

Den weiblichen Abgeordneten des ersten Deutschen Bundestages widmet sich das in diesem Jahr erschienene Buch "Der nächste Redner ist eine Dame". Darin porträtieren die Autorinnen Helene Bukowski, Julia Franck, Shelly Kupferberg, Terézia Mora und Juli Zeh fünf der insgesamt 38 Frauen auf persönliche und tiefgründige Weise. Ergänzt werden die Porträts durch die Kurzbiografien aller weiteren ersten weiblichen Abgeordneten der ersten Wahlperiode.


3. Wie Lenelotte von Bothmer mit einem Hosenanzug in die Geschichte einging

Dass Frauen Hosenanzüge tragen, ist im Bundestag ein alltägliches Bild – doch das war nicht immer so. Als die SPD-Politikerin Helene-Charlotte (Lenelotte) von Bothmer am 14. Oktober 1970 ans Rednerpult des Bonners Plenarsaals tritt, löst sie mit ihrem Outfit, einem beigefarbenen Hosenanzug mit hochgeschlossener Jacke, einen Skandal aus. 

Modischer Widerstand: Am 15. April 1970 betrat die SPD-Abgeordnete Lenelotte von Bothmer im Hosenanzug den Plenarsaal.   Foto: picture-alliance / Egon Steiner

Zuvor hatte der Vizepräsident des Bundestages Richard Jaeger (CSU) erklärt, er würde keiner Frau erlauben, den Plenarsaal in Hosen zu betreten und schon gar nicht ans Rednerpult zu treten. Davon fühlten sich einige Politikerinnen provoziert und entschieden, genau das zu tun, was ihnen verwehrt sein sollte.

Bundestagsvizepräsidentin Lieselotte Funke (FDP) ermutigte daraufhin die 54-jährige Mutter von sechs Kindern und leidenschaftliche Rockträgerin Lenelotte von Bothmer. Nachdem von Bothmer bereits am 15. April 1970 den Plenarsaal im Hosenanzug betreten hatte, trat sie am 14. Oktober desselben Jahres in diesem ans Rednerpult - und hielt als erste Frau im Bundestag eine Rede im Hosenanzug. “Die erste Hose am Pult", schallte es durch das Plenum, noch bevor sie zu sprechen begonnen hatte. Der erklärte Hosengegner Jaeger leitete die Sitzung, sagte aber nichts zu der Aktion. Im Anschluss erhielt von Bothmer wütende Briefe, in denen sie unter anderem als “würdeloses Weib” beschimpft wurde.

Worum es in der Rede der Bildungspolitikerin ging, ist heute in Vergessenheit geraten. Aber von Bothmer hatte sich mit diesem Auftritt ihren Platz in den Geschichtsbüchern gesichert und der Hosenanzug wurde zum Symbol der Emanzipation im Bundestag.


4. 4527 Plenarsitzungen und 84 Sondersitzungen in 75 Jahren

In den Plenarsitzungen werden Anträge und Gesetze debattiert und verabschiedet sowie Regierungsmitglieder befragt. Sie spiegeln die parlamentarische Arbeit wider und ermöglichen Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit. Insgesamt hat der Bundestag seit seiner konstituierenden Sitzung am 7. September 1949 31.610 Stunden getagt und ist zu 4.527 Plenarsitzungen zusammengekommen, darunter 84 Sondersitzungen. Sondersitzungen finden zumeist in der parlamentarischen Weihnachts-, Oster-, oder Sommerpause statt, können aber auch in regulären Sitzungswoche angesetzt werden. Sie werden einberufen, wenn dringende politische Ereignisse, Krisen oder besondere Anlässe es erfordern, dass der Bundestag kurzfristig zusammenkommt.

Wie lang eine Sitzung dauert, variiert stark. Die kürzeste Sitzung dauerte lediglich eine Minute und fand am 13. März 1974 statt – einziger Tagesordnungspunkt war die Wahl eines Stellvertreters im Vermittlungsausschuss. Im Gegensatz dazu dauerte die längste Sitzung des Bundestages über zwanzig Stunden, vom 24. bis zum 25. November 1949. Anlass war eine Beleidigung von Bundeskanzler Adenauer durch den SPD-Fraktionsvorsitzenden Kurt Schumacher, die zu einem mehrtägigen Ausschluss Schumachers von den Plenarsitzungen führte.

Übrigens: Insgesamt wurden in 75 Jahren 13.737 Gesetze in den Bundestag eingebracht und 8.977 davon verabschiedet.


5. Von 19 bis 91 Jahre: (Fast) alle Generationen unter einem Dach

In den vergangenen 75 Jahren zählte der Deutsche Bundestag insgesamt 4.363 Mitglieder. Gemäß Paragraf 15 des Bundeswahlgesetztes darf sich zur Wahl aufstellen lassen, "wer am Wahltage 1. Deutscher im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes ist und 2. das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat”. 

Nur wenig älter war die jüngste jemals in den Bundestag gewählte Abgeordnete: Anna Lührmann von Bündnis 90/Die Grünen zog 2002 mit gerade einmal 19 Jahren in das Parlament ein. Der älteste Abgeordnete in der Geschichte des Bundestag war Konrad Adenauer (CDU), der im Alter von 89 Jahren noch ins Parlament gewählt wurde und zwei Jahre später starb.

Im Bundestag sitzen (fast) alle Generationen unter einem Dach: Das durchschnittliche Alter der Bundestagsabgeordneten liegt bei 49,3 Jahren.


6. Vom Pult ins Protokoll: Erste Wahlperiode verzeichnet die meisten Ordnungsrufe

Die Reden im Bundestag sind das Herzstück der politischen Auseinandersetzung. Im Plenum wird debattiert, gestritten und manchmal auch um Worte gerungen. Dabei erhält nicht jede Aussage Applaus und so mache Formulierung bleibt nicht unwidersprochen. Kontroverse Äußerungen sorgten in den vergangenen 75 Jahren immer wieder für Ordnungsrufe aus dem Präsidium - insgesamt 783 Mal

Die meisten, 156 Ordnungsrufe, wurden in der ersten Wahlperiode (1949-1953) ausgesprochen, während in der 17. Wahlperiode (2009-2013) nur ein Ordnungsruf verhängt wurde. All dies wird vom stenografischen Dienst für die Ewigkeit festgehalten. Die Stenografen zeichnen nicht nur die Debatten auf, sondern auch jeden Zwischenruf, jede Fragen und den Beifall. Bis zu 500 Silben pro Minute können sie mitschreiben. 386.126 Seiten stenografischen Berichte sind so bislang zusammen gekommen.

Die meisten Reden in einer Wahlperiode hielten

🥇 1. Platz: Volker Ullrich (CSU) mit 169 Reden in der 19. Wahlperiode
🥈 2. Platz: Petra Pau (damals fraktionslos) mit 144 Reden in der 15. Wahlperiode
🥉 3. Platz: Gesine Lötzsch (damals fraktionslos) mit 134 Reden in der 15. Wahlperiode
🥉 3. Platz: Ulrich Briefs (PDS/LL, später fraktionslos) mit 134 Reden in der 12. Wahlperiode



7. Abstimmung per Gang durch eine Tür: 556 Hammelsprünge seit 1949

In der 75-jährigen Arbeit des Deutschen Bundestages kam es bisher zu 556 Hammelsprüngen. Ein “Hammelsprung” ist im Bundestag ein spezielles Verfahren zur Abstimmung. In der Regel stimmen die Abgeordnete durch Handzeichen oder Aufstehen ab. Besteht Zweifel über das Ergebnis, kommt der „Hammelsprung“ zum Einsatz: Dazu verlassen die Abgeordneten den Plenarsaal und betreten ihn wieder durch eine von drei Türen, die jeweils für “Ja”, “Nein” oder “Enthaltung” stehen. Schriftführer zählen die Abgeordneten dabei. 

Foto: Deutscher Bundestag / Axel Hartmann

Ja, Nein oder Enthaltung: Zwischen diesen drei Türen in den Plenarsaal müssen die Abgeordneten sich beim "Hammelsprung" entscheiden. In der aktuellen Wahlperiode kam es bisher sieben Mal dazu.

Woher der Name “Hammelsprung” ursprünglich kommt, ist nicht abschließend geklärt. Wahrscheinlich geht er auf ein Intarsienbild über einer Abstimmungstür im alten Reichstagsgebäude zurück. Das Bild zeigte die Szene einer griechischen Sage: Der blinde, einäugige Riese Polyphem zählt seine Schafe, unter deren Bäuchen sich Odysseus versteckt hatte, um zu fliehen.

Doch dass es zum Hammelsprung kommt, ist eher eine Ausnahme im Bundestag. Normalerweise, wenn keine namentliche Abstimmung gefordert wird, wird per Handzeichen oder durch das Prinzip “Aufstehen und Sitzenbleiben” abgestimmt. Zu einer namentlichen Abstimmung kommt es, wenn eine Fraktion oder mindestens fünf Prozent der Abgeordneten dies verlangen. Namentlich abgestimmt wird meist bei politisch besonders umstrittenen Fragen. Dafür haben die Abgeordneten Stimmkarten, auf denen ihr Name und ihre Fraktion stehen. Blaue Karten bedeuten „Ja“, rote „Nein“, weiße Karten bedeuten „Stimmenthaltung“. Bisher kam es in der Geschichte des Bundestages zu 2.524 namentlichen Abstimmungen.


8. Aus Bonn nach Berlin: 24 Züge waren für das Umzugsgut nötig

Die Entscheidung, den Regierungssitz von Bonn nach Berlin zu verlegen, war eine der umstrittensten politischen Debatten in der Geschichte der Bundesrepublik. Am 20. Juni 1991 fiel der sogenannte Hauptstadtbeschluss, bei dem der Bundestag mit knapper Mehrheit entschied, Berlin zum Regierungssitz zu machen. Über Jahre hinweg wurde heftig debattiert, wie der Umzug konkret ablaufen sollte und welche Rolle Bonn weiterhin spielen würde. 

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Kritiker des Umzugs warnten vor den hohen Kosten und dem Verlust gewachsener Strukturen am Rhein. Befürworter hingegen sahen in Berlin nicht nur den historischen, sondern auch den symbolischen Ort für das vereinte Deutschland. Die Verabschiedung des Berlin/Bonn-Gesetzes am 10. März 1994 stellte schließlich einen Kompromiss dar. Es regelte den schrittweisen Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin, während Bonn weiterhin als Standort für sechs Ministerien erhalten bleiben sollte. 

Zwischen dem 5. und dem 31. Juli 1999 vollzog der Bundestag seinen Umzug – eine immense logistische Herausforderung. Insgesamt brachten 24 Züge das gesamte Umzugsgut von Bonn nach Berlin. Transportiert werden mussten: 

🛋️ 50.000 Kubikmeter Mobiliar
📚 50.200 Bücherkartons
📺 1.184 Fernsehgeräte
❄️ 837 Kühlschränke
🪑 13.835 Stühle
🔒 584 Tresore mit sicherheitsrelevanten Inhalten

Stand: 05. August 2024

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