Holocaust-Gedenken : "Tag der Scham"
Die Überlebende Inge Auerbacher, Knesset-Präsident Mickey Levy und Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) warnen in der Gedenkstunde im Bundestag vor dem Vergessen.
Emotionale Momente der Gedenkstunde: Die Überlebende Inge Auerbacher erzählt ihre Lebensgeschichte, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas dankt Knesset-Präsident Mickey Levy (Bild in der Mitte), der bei seiner Rede mit den Tränen kämpfte.
Zum Schluss ihrer Rede steht sie mit weit ausgebreiteten Armen da - so, als wolle sie jeden Einzelnen im Plenarsaal umarmen: "Mein innigster Wunsch ist die Versöhnung aller Menschen", sagt Inge Auerbacher mit bewegter Stimme. Dabei hat die 87-jährige Holocaust-Überlebende gerade das unfassbare Grauen geschildert, das sie als Kind im nationalsozialistischen Deutschland erfuhr. Als Siebenjährige war die heutige US-Staatsbürgerin im August 1942 zusammen mit ihren Eltern von Stuttgart aus in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert worden, erlebte dort Hunger, Angst, Krankheit und Tod. Bis zur Befreiung durch Soldaten der Roten Armee am 8. Mai 1945 blieb sie dort interniert. 1946 emigrierte Auerbacher mit ihren Eltern nach New York.
Von dort ist sie trotz Pandemie angereist, um in der Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus zu sprechen. Es sei immer ihr "Traum" gewesen, im Bundestag zu sprechen, hatte Auerbacher vorher in einem Interview erklärt. Sie wolle für die sechs Millionen ermordeten Juden sprechen, vor allem für die Kinder, die umgebracht worden sind.
Wunder des Überlebens
Ihr eigenes Überleben sei ein "Wunder", sagt Auerbacher in ihrer Rede vor den Abgeordneten. Auf den Besuchertribünen sitzen weitere Holocaust-Überlebende und ihre Angehörigen. Im Halbrund direkt vor dem Rednerpult haben zudem neben Bundestagspräsidentin Bärbel Bas die Vertreter der anderen Verfassungsorgane Platz genommen: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzler Olaf Scholz, Bundesratspräsident Bodo Ramelow und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth. Auch der Präsident des israelischen Parlaments, Mickey Levy, der später selbst noch ans Pult treten wird, hat hier Platz genommen.
Sehr still ist es im Saal, als Auerbacher in ihrem weich klingenden, schwäbischen Idiom, aber doch drastischen Worten beschreibt, wie der Terror der Nazis in das Leben der jüdischen Gemeinde und damit auch in ihre Familie einbrach.
"Nazi-Rowdies"
Sie sei noch ein Kind gewesen, aber die "grauenhafte Zeit des Schreckens und des Menschenhasses" habe sie trotzdem gut im Gedächtnis: Nicht einmal vier Jahre alt war die kleine Inge, als während der Pogrome des 9. und 10. Novembers 1938 "Nazi-Rowdies" mit Backsteinen die Fenster ihres Elternhauses im badischen Kippenheim einwarfen. "Ein Stein hat mich beinahe getroffen", erinnert sich Auerbacher. Großvater und Vater - letzterer Textilhändler und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichneter Veteran des Ersten Weltkrieges - seien in der Folge wochenlang im Konzentrationslager Dachau interniert und misshandelt worden, aber schließlich doch freigekommen.
Die Familie wollte daraufhin Deutschland verlassen, erzählt Auerbacher, zog zunächst zu den Großeltern ins schwäbische Jebenhausen. Hier erlebte sie die letzten glücklichen Tage als Kind. Doch immer neue antisemitische Bestimmungen und Gesetze machten auch hier bald das Leben schwer: In eine normale Schule durfte sie als Jüdin nicht gehen, mit dem gelbe Davidstern auf ihrer Brust wurde sie zur Zielscheibe für Hohn und Spott der "christlichen Kinder". Auch die Hoffnung auf Ausreise erfüllte sich nicht. "Die Türen zum Auswandern wurden bald geschlossen."
Kein Entrinnen
Ende 1941 fiel die geliebte Großmutter einer der ersten Deportationen nach Osten zum Opfer. Im Sommer 1942 erhielten dann auch Inge Auerbacher und ihre Eltern den Transportbefehl der Geheimen Staatspolizei - kurz Gestapo. Gemeinsam mit rund 1.100 Juden aus Württemberg wurde die Familie in Richtung Theresienstadt gebracht. Bei der Ankunft umringten sie Wachleute mit Peitschen: Die Eltern gehen rechts und links neben Inge, um ihr einziges Kind vor Schlägen zu schützen. Nur wenige ihrer Mitreisenden haben überlebt: "Soviel ich weiß, bin ich das einzige Kind, das unter allen Deportierten aus Stuttgart zurückkehrte", berichtet Auerbacher. Von den etwa 140.000 Juden in Theresienstadt seien mindestens 33.000 in dem Lager umgekommen, etwa 88.000 in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern gestorben.
Auch ihre Freundin Ruth aus Berlin, mit der sie eine Zeit das Lagerleben in Theresienstadt teilte, starb in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau. Die beiden Mädchen hatten sich fest versprochen, sich zu besuchen, sobald alles vorbei sei. Doch: "Sie erlebte nicht einmal ihren zehnten Geburtstag", sagt Auerbacher. Im Plenarsaal wischen sich Zuhörer über die Augen, auch leises Schnäuzen ist zu hören. Auerbachers Stimme, die sonst so kraftvoll und fest klingt, zittert als sie ruft: "Liebe Ruth, ich bin hier in Berlin, um dich zu besuchen."
Einen Tag später wird sie, begleitet von Bundestagspräsidentin Bas, am Stolperstein ihrer ermordeten Freundin gedenken (siehe Seite 12). "Die Vergangenheit darf nie vergessen werden", mahnte Auerbacher schließlich eindringlich.
Tränen beim Kaddisch
Emotional auch der Auftritt des israelischen Parlamentspräsidenten Mickey Levy: Als der 70-Jährige zum Abschluss seiner Rede das jüdische Totengebet spricht, versagt ihm kurz die Stimme und er kämpft mit den Tränen. Trost findet er in den Armen von Inge Auerbacher.
"Grenzen des Bösen ausgedehnt"
Zuvor hatte er auf die Geschichte des Reichstagsgebäudes hingewiesen: ".An diesem Ort hat die Menschheit die Grenzen des Bösen ausgedehnt - ein Ort des Werteverlusts, an dem der demokratische Rahmen zu rassistischer Tyrannei verfiel", sagte Levy. Dies zeige, wie zerbrechlich die Demokratie sei. Sie müsse "um jeden Preis" verteidigt werden. Der Knesset-Präsident betonte zudem die Notwendigkeit, nicht nachzulassen in der Erinnerungsarbeit. "Die ernste Mahnung des Holocaust lautet: "Nie wieder. Nie wieder!"
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, die mit ihrer Rede die Gedenkstunde eingeleitet hatte, bezeichnete den 27. Januar als "Tag der Scham" und rief dazu auf, sich neuer Judenfeindlichkeit entgegenzustellen: "Der Antisemitismus ist mitten unter uns", unterstrich sie. Wenn "Rechtsextremisten, Geschichtsrevisionisten und Völkisch-Nationale" Wahlerfolge feierten, sei das kein "Alarmzeichen", sondern "allerhöchste Zeit zu handeln", stellte Bas klar. Die Bundestagspräsidentin appellierte, die demokratische Gesellschaft zu schützen: "Die Demokratie trägt kein Ewigkeitssiegel", warnte sie. Es brauche Bürgerinnen und Bürger, die sie schätzten und mit Leben füllten. Auch daran erinnere dieser Tag in der Geschichte: "Von uns allen hängt es ab."