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Deutschland und Russland : Der entgleiste Sonderzug

Der Historiker Bastian Matteo Scianna zeichnet das Scheitern der deutschen Russlandpolitik nach: Die "Verflechtung" sei immer eine Utopie geblieben.

06.12.2024
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3 Min

Mea culpa, das sei nicht so sein Ding, so hat es der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ausgedrückt. Auch seine Nachfolgerin Angela Merkel (CDU) hat wiederholt ihre Russlandpolitik verteidigt. Die Ausdeutung der deutschen Beziehungen zu Russland seit 1989 ist in vollem Gange. Viel zu oft sei Berlin auf Kuschelkurs zum Kreml gegangen, lautet ein zentraler Vorwurf. Deutsche Regierungen hätten die Lieferung von russischem Gas über fast alles gestellt und den Kreml durch Appeasement zu seinem Beutezug gegen die Ukraine geradezu ermuntert.

Foto: picture-alliance / dpa / dpaweb

Russlands Präsident Wladimir Putin (l.) und Bundeskanzler Gerhard Schröder während seines Besuchs in Moskau am 9. Mai 2005.

Wer sein Urteil auf eine fundierte Basis stellen will, für den ist Bastian Matteo Sciannas "Sonderzug nach Moskau" eine exzellente Wahl: Es dürfte die wohl umfassendste Darstellung zur deutschen Russlandpolitik der vergangenen drei Jahrzehnte sein. Eine der zentralen Thesen beschreibt der Potsdamer Historiker als "Utopie der Verflechtung": Der Wunsch, Sicherheit durch Interdependenz, durch wechselseitige Abhängigkeiten zu erzeugen. Deutschland bezieht preiswertes Gas aus Russland, Russland profitiert von deutscher Technik, die berühmten "Drähte", "Gesprächsfäden" und "Brücken" zwischen Berlin und Moskau sorgen für Stabilität in Europa. "Der deutsche Sonderzug fuhr und fuhr und fuhr mit guten Hoffnungen beladen."

Warnruf vor deutsch-russischen Alleingängen

Das Buch ist kein Argumentefundus für jene, die hinterher immer schlauer sein wollen. Scianna zeigt auf, dass deutsche Russlandpolitik überwiegend eingebunden war in die deutsche Europa- und Bündnispolitik, verschiedene Bundesregierungen geradezu auf eine Europäisierung der Russlandpolitik drängten, insbesondere Helmut Kohl und Merkel immer wieder Rücksicht auf kleinere Partner nahmen, viele vermeintlich deutsche Positionen zudem von ebenfalls am russischen Gas interessierten Nachbarn geteilt wurden. Andererseits arbeitet das Buch die ernste Sorge der Mittel- und Osteuropäer heraus, denen bei Kanzlerbesuchen in Moskau Begriffe wie "Rapallo" in den Ohren klingelten: Bis heute steht der 1922 in dem italienischen Badeort geschlossene Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und Sowjetrussland als ein Synonym für das Misstrauen gegenüber deutsch-russischen Alleingängen.

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Die Warnungen waren auch hier nicht unbegründet, wie Scianna am Beispiel des "pipelinepolitischen Burgfriedens" in Berlin aufzeigt. Als Konsequenz eines von einem grünen Zeitgeist angefeuerten politischen Willens, aus Atom- und Kohlekraft gleichzeitig auszusteigen, stehe Nord Stream 2 als Symbol für strategische Kurzsichtigkeit: Unter der CDU-geführten Merkel-Regierung und unter Zutun des SPD-Vizekanzlers Sigmar Gabriel wuchs der Anteil russischer Gasimporte auf 55 Prozent, obendrein wanderten wichtige Gasspeicher in russischen Besitz.

Scianna: Deutschland nutzte seine ökonomische Macht kaum

"Die sanfte Gangart gegenüber dem Kreml steht exemplarisch dafür, wie wenig die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt ihre ökonomische Macht als Ausgleich für verteidigungspolitische Schwächen oder als Abschreckungsmittel nutzt", lautet das Urteil des Historikers. Zugleich macht er deutlich, wie eng die Spielräume waren: Eine Bundesregierung, die mit aus heutiger Sicht wünschenswerter Weitsicht auf mehr "schmutziges" und teures LNG-Fracking-Gas gesetzt hätte, wäre vor dem russischen Überfall auf die Ukraine wohl einer Phalanx von Industrie, Gewerkschaften und Verbrauchern gegenübergestanden.

Scianna stellt seine Thesen auf eine umfassende Quellenbasis. Der Autor breitet souverän den ganzen Besteckkasten des Historikers aus, zitiert aus teils vorzeitig freigegebenen Akten der Bundesregierung, greift auf Protokolle der Fraktionssitzungen der jeweiligen Koalitionäre zurück, auf Bundestagsdebatten und Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste, Zeitzeugen kommen zu Wort. Die Zahl der Quellen geht wohl in die Tausende, die Zahl der Fußnoten ohnehin. Solche Akribie wird vom Fachpublikum geschätzt, könnte dem Buch für den Erfolg bei einer breiteren Leserschaft aber im Wege stehen.

Die Folgen Deutschlands "interessengeleiteter Verflechtungspolitik" 

Sciannas Fazit: Ohne militärische Rückversicherung, ohne ökonomische Abschreckung setzte Berlin auf eine "interessengeleitete Verflechtungspolitik" und stand 2022, nachdem der russische Präsident dieser Verflechtung die Basis brutal entzog, einigermaßen ratlos da. Der Sonderzug, er ist entgleist, schreibt Scianna. Sonderzüge besteigen westliche Politiker heute, wenn sie in die vom russischen Raketenhagel bedrohte Ukraine reisen.


Bastian Matteo Sciannas:
Sonderzug nach Moskau
Geschichte der deutschen Russlandpolitik seit 1990
C.H. Beck, München 2024;
719 Seiten, 34,00 Euro