Internationale Politik seit 1989/90 : Die Hybris trügerischer Gewissheiten
Der Historiker Andreas Rödder geht in "Der verlorene Frieden" der Frage nach, warum die internationale Ordnung nach Ende des Kalten Kriegs scheiterte.
"Ich möchte um Vergebung bitten - für die Träume, die nicht wahr geworden sind, und für die Dinge, die einfach schienen, sich aber als so entsetzlich schwierig herausgestellt haben." Als sich der damalige russische Präsident Boris Jelzin in der Silvesternacht des Jahres 1999 in einer TV-Ansprache von den Bürgern seines Landes verabschiedete und die Macht in die Hände des ehemaligen Geheimdienst-Chefs Wladimir Putin gab, blickte er voller Resignation auf seine Präsidentschaft zurück.
Für den Historiker Andreas Rödder von der Universität Mainz macht die Abschiedsbotschaft des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Russlands sehr gut deutlich, warum nach den Jelzin-Jahren die autoritäre und revisionistische Politik Wladimir Putins bis heute so viel Zuspruch in Russland findet. In seinem neuen Buch "Der verlorene Frieden", das auf einen Forschungsaufenthalt Rödders an der Johns Hopkins Universität in Washington D.C. beruht, geht er der Frage nach, warum die Friedensordnung von 1989/90 scheiterte.
Rödder erinnert an die Lehren aus der Antike
Eine eindeutige Antwort kann Rödder nicht geben und behauptet dies auch gar nicht. Aber das Buch enthält viele interessante Denkanstöße. So sei im Westen nach dem Sieg im Kalten Krieg "die optimistische Vorsicht von 1989/90" in die trügerische Gewissheit umgeschlagen, "die liberale Ordnung werde sich, im Innern und nach außen, über den ganzen Globus verbreiten". So hätten die Demokratien in Europa und Amerika viel von ihrer Fähigkeit eingebüßt, "die Perspektive des Gegners mitzubedenken, statt die eigene zu verabsolutieren". Rödder erinnert in diesem Zusammenhang an den antiken Geschichtsschreiber Thukydides, der schon vor mehr als 2.500 Jahren konstatierte, das demokratische Athen sei nicht an der Übermacht äußerer Gegner, sondern an der eigenen Hybris gescheitert.
Andreas Rödder:
Der verlorene Frieden.
Vom Fall der Mauer zum neuen Ost-West-Konflikt.
C.H.Beck,
München 2024;
250 Seiten, 26,00 €
Recht detailliert schildert Rödder die wichtigsten weltpolitischen Ereignisse seit der Zeitenwende 1989/90. Eine wichtige Zäsur markiert für ihn das Jahr 2008 mit dem Georgien-Krieg, der Weltfinanzkrise und der Nato-Entscheidung von Bukarest, der Ukraine zwar einen Beitritt in Aussicht zu stellen, aber keine konkreten Schritte dafür zu unternehmen, was Rödder für einen "kapitalen Fehler" hält.
Putins Einschätzung des Westens
Als die USA und ihre Verbündeten nach den ernüchternden Erfahrungen in Afghanistan, Irak und Libyen defensiver agierten als zuvor, sei Putin zu dem Schluss gekommen, "dass der Westen expansiv agiere, wenn man ihn gewähren lasse, er aber nichts entgegenzusetzen habe und zurückweiche, wenn man ihm mit harter Gewalt entgegentrete". Ein wenig zu kurz kommt in dem Buch leider der Konflikt um die Ukraine seit dem Herbst 2013, der das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen stärker vergiftete als andere.
Weitere Bücher zum Thema
Die Historikerin Mary E. Sarotte zeichnet den Weg der Nato-Osterweiterung nach und räumt mit einer Legende auf.
Der russische Exil-Schriftsteller wirft einen Blick auf die Entwicklung in seinem Heimatland in den vergangenen zehn Jahren und rechnet mit dem System Putins ab.
Als einzige Erklärung oder gar Rechtfertigung für Russlands aggressive und von China unterstützte Politik will Rödder die Fehler des Westens allerdings auf keinen Fall akzeptieren. Das gelte vom Abbruch der westorientierten Reformpolitik 1993/94 bis hin zum Angriff auf die Ukraine, womit der Westen nun "vor der existenziellen Herausforderung seiner Selbstbehauptung" stehe.