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Dmitry Glukhovsky im Interview : "Ich habe keine Angst"

Der russische Exil-Schriftsteller wirft einen Blick auf die Entwicklung in seinem Heimatland in den vergangenen zehn Jahren und rechnet mit dem System Putins ab.

10.10.2024
True 2024-10-15T18:00:42.7200Z
8 Min

Herr Glukhovsky, international bekannt wurden Sie als Schriftsteller vor allem mit ihrer Roman-Trilogie "Metro". Jetzt haben Sie mit "Wir. Tagebuch des Untergangs" ein politisches Sachbuch vorgelegt. Warum? Und wer ist das "Wir"?

Dmitry Glukhovsky: Ich selbst wollte verstehen und auch meinen Lesern davon berichten, was mit Russland und mit dem russischen Volk in den letzten zehn Jahren geschehen ist. Was hat zum Krieg geführt? Was ist mit der jungen aktiven Zivilgesellschaft und der Mittelschicht passiert? Eine wichtige Rolle spielen dabei die Repressionen nach den Demonstrationen gegen die Wahlfälschungen 2011 und 2012. Die Anführer der Opposition landeten im Gefängnis. Einer der Bedeutendsten von ihnen, Boris Nemzow, wurde im Februar 2015 ermordet. Gleichzeitig wurde der Mittelschicht der Zugang zur Macht systematisch versperrt, so dass sie sich entmutigt aus der Politik zurückzog. Dies gilt auch für die städtische, wohlhabende und konsumorientierte Bevölkerung.

Foto: picture alliance / Ulrich Baumgarten
Dmitry Glukhovsky
Dmitry Glukhovsky wurde 1979 in Moskau geboren und studierte Journalismus und Internationale Beziehungen an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Er arbeitet als Journalist und Buchautor. Mit seinem ersten Roman "Metro 2033" landete er einen Bestseller, der in 40 Sprachen übersetzt wurde. Wegen seiner Kritik an Putins Regime und seines Krieges gegen die Ukraine wurde er zum "ausländischen Agenten" erklärt und 2022 in Abwesenheit zu einer achtjährigen Haftstrafe verurteilt. Er lebt im Exil.
Foto: picture alliance / Ulrich Baumgarten

Gehört nur die zahlenmäßig kleine, politisch aktive Schicht zu Ihrem "Wir"?

Dmitry Glukhovsky: Der große Teil des russischen Volkes ist nach wie vor damit beschäftigt, das tägliche Brot zu verdienen, um zu überleben. Ihr Alltag ist gleich: Arbeit, Nutzgarten, kleine Einkäufe, danach ein wenig Freizeit mit Alkohol und Fernsehen. Auch überlegen die Menschen, wie sie ihre Mikrokredite zurückzahlen können. Sie sind gezwungen, loyal zur Macht zu stehen, da sie in staatlichen Betrieben und Behörden arbeiten und bezahlt werden. Ich meine Beamte, Militärs, Polizisten und Lehrkräfte. Was sie zu Hause über die Macht denken, weiß niemand. Mitunter protestieren sie gegen konkrete, ihr Umfeld betreffende Ärgernisse, wie den Bau eines Müllverarbeitungsbetriebs, Straßenbau, die Abholzung der Wälder oder die Einführung einer Maut.

Sie schreiben, die Macht habe "schreckliche Angst vor dem Volk" und wolle ihm keinesfalls Verantwortung für den Staat anvertrauen.

Dmitry Glukhovsky: Die Macht weiß, dass die wahre Loyalität des Volkes ihr gegenüber gleich Null ist. Der vorgespielte Gehorsam, die Zustimmung und die Unterstützung sind das Resultat der pünktlich bezahlten Gehälter und Renten und des Gefühls, der Staatsmacht hilflos ausgeliefert zu sein. Hinzu kommt die Überzeugung der Menschen, auf die Macht keinerlei Einfluss zu haben. Und die Machthabenden kultivieren genau dieses Gefühl der Macht- und Hilflosigkeit beim Volk.

Sie nennen Wladimir Putin einen Usurpator. Gibt es keine Liebe im Volk zu Putin?

Dmitry Glukhovsky: Nein. Unsere Machthaber wissen, dass keiner sie liebt. Wenn man dem Volk befiehlt zu applaudieren, dann applaudiert es. Das System basiert auf einem Gewaltapparat. Wenn die Macht, vor allem der alternde Putin, Schwächen zeigt, verflüchtigt sich seine Magie. Das Volk ist bereit, die Lügen zu glauben, solange man es bezahlt oder so lange die Macht stark ist. Alexey Nawalny war es mit seinen Enthüllungen gelungen, die Mystik und den geheimnisvollen Nebel um Putins Macht wegzupusten. Über Putin selbst, seine Geliebten und seine Schwäche für Luxus wurde einiges berichtet.


„Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist als Abteilung des Geheimdienstes FSB ein Teil der Macht, zuständig für die politische Loyalität der Gläubigen.“
Dmitry Glukhovsky

Trifft das auch auf die Russisch-Orthodoxe Kirche zu? Sie schreiben, dass Russland auf einen Martin Luther wartet.

Dmitry Glukhovsky: Um es ganz klar zu sagen: Das Volk ist mehrheitlich definitiv nicht gläubig. Ein einfacher Russe ist eher abergläubig als fundamentalistisch oder evangelikal, wie es etwa viele Amerikaner sind. Mit der starken Betonung der "traditionellen russischen Werte", beispielsweise Treue und Bescheidenheit, versucht die Macht den religiösen Fundamentalismus zu stärken. Die Menschen misstrauen der Kirche, da sie heute wie unter Stalin eng mit dem Geheimdienst verbunden ist. Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist als Abteilung des Geheimdienstes FSB ein Teil der Macht, zuständig für die politische Loyalität der Gläubigen.

Wie funktioniert die Beziehung zwischen dem Volk und der Macht?

Dmitry Glukhovsky: Die Beziehung hat einen rein opportunistischen Charakter: Wir wissen, dass du uns bezahlst; wenn wir Unfug machen, werden wir bestraft und die Bestrafung findet öffentlich statt. Das bekommen auch die Menschen an der Peripherie des Politischen mit. Da die Erinnerung an die sowjetischen Repressionen tief in den Genen des Volkes verankert ist, schreckt die Macht das Volk regelmäßig auf und hält es so fern von der Politik.

Welche reale Gefahr stellte Alexey Nawalny im Gefängnis dar?

Dmitry Glukhovsky: Nawalny blieb auch im Gefängnis ein sehr aktiver Politiker. Im Vorfeld der sogenannten Präsidentenwahl 2024 ermordete der Kreml seinen Hauptgegner. Er hatte es in den Jahren des politischen Kampfes gegen das korrupte Regime geschafft, sich als eine klare Alternative zu Putin aufzubauen. Das persönliche Schicksal des mutigen Nawalny, der sich dem Tyrannen entgegenstellte, brachte ihm in den Augen von Millionen Menschen großen Respekt ein.

Foto: Zino Peterek / Frankfurter Buchmesse

Der russische Exil-Schriftsteller Dmitry Glukhovsky stellte auf der Frankfurter Buchmesse 2022 sein Werk "Geschichten aus der Heimat" vor.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie gezielt Präsident Putin die schwachen demokratischen Institutionen demontierte, das "neurussische Imperium" ausrief und die Ukraine angriff.

Dmitry Glukhovsky: Der Krieg entspricht nicht den Interessen der russischen Elite, denn er stört ihre Geschäfte. Aber der alternde Putin mit seinem übersteigerten Ego will sich ein Denkmal setzen. Er will bestimmen, wie er in der Erinnerung des Volkes bleibt - eher als ein Peter der Große oder ein Stalin. Frühestens in zehn Jahren wird sich seine Generation allmählich von der Macht verabschieden. Putins engster Kreis, das illegitime Regime, denkt darüber nach, wie sie die Übergabe der Macht an ihre Kinder sicherstellen kann. Dank journalistischer Recherchen ist in Russland allen bekannt, wie korrupt diese Leute sind. Während sie Patriotismus und Gerechtigkeit predigen, stehlen sie das Staatseigentum wie einfache Diebe.

Und Russlands Jugend? Ist sie politischer als große Teile der Gesellschaft?

Dmitry Glukhovsky: Die Generation, die sich auf YouTube bewegte und die man lange nicht als politisch betrachtete, politisierte sich zuerst durch die Texte des Rappers Oxxxymiron, antistalinistische Dokumentationen oder Interviews des Youtubers Jurij Dud. Trotz aller Hindernisse der Regierung fand die YouTube-Generation ihren Weg, unabhängig zu denken. Schon vor dem Krieg hatte sich in Russland der Wunsch nach etwas Neuem formiert, man wollte Änderungen, ein offenes Land sein, verbunden mit der freien westlichen Welt. Diese Schicht machte sich lustig über den Obskurantismus der Duma-Abgeordneten, die vom "heiligen Russland" schwafelten und gegen Minderheiten hetzten. Auch um diese junge, starke und gebildete Generation in Schach zu halten, brauchte man den Krieg. Die Generation 20+ hält nichts von Putin, sie ist ihm auch nichts schuldig. Aber der Kreml will die Macht vererben, die er sich in den letzten 20 Jahren gesichert hat. Das Putin'sche System bedeutet nicht nur Kontrolle über die politische Macht und die staatlichen Institutionen, darunter Geheimdienste, Polizei und Militär, sondern auch über die Wirtschaft und die Ressourcen des Landes. Alle diese Mittel hat er unter seinem Clan aus Jugendfreunden, FSB und den Gewaltorganen aufgeteilt. In den Augen des Volkes gelten sie als starke Räuber. Ihre Kinder aber, die aktuell aus der zweiten Reihe agieren, gelten als Weicheier, als von ihren starken Vätern unterdrückte Kinder.


Dmitry Glukhovsky:
Wir.
Tagebuch des Untergangs.
Heyne,
München 2024;
448 Seiten, 24,00 €


Liegt darin auch einer der Gründe für den Krieg gegen die Ukraine?

Dmitry Glukhovsky: Ein kleiner, siegreicher Kriegszug könnte ihre Position festigen. Alle, die dabei waren, würden sakralisiert und heilig gesprochen. Sie alle: Putin, Patruschev, Bortnikov, der ganze Sicherheitsrat, alle, die zum historischen Sieg beigetragen haben. Auch deren Kindern wären unantastbar. Der Krieg war auch eine Antwort auf das neue politische Selbstbewusstsein der jungen Zivilgesellschaft und ihre Ablehnung Putins als Retter der Nation. Diese Entwicklung beunruhigte die Macht sehr. Obwohl das System einen massiven Zwangs-Patriotismus verbreitet, gibt es keine Kriegsfreiwilligen. Man geht zur Front nur "za bablo" - nur wegen des Geldes. Niemand geht, um das Vaterland zu verteidigen. Stattdessen kauft die Macht Söldner im eigenen Land.

Sie beschreiben Russland als Imperium, das sich in einer Opferrolle im Kampf für Gerechtigkeit sieht. Wie ist das zu verstehen?

Dmitry Glukhovsky: Putin ist ein Mann des KGB. Er ist darin geschult, Menschen zu manipulieren. So geht er auch als Präsident vor. Innerhalb Russlands verbreitet er imperiale Botschaften. Danach ist dieser Krieg ein Zeichen unserer Stärke. Außerhalb Russlands spielt er für den Globalen Süden die Rolle eines antiimperialistischen und anti-kolonialen Kämpfers. Der Henker präsentiert sich als Opfer.

Wird dieser Krieg das System Putin beenden?

Dmitry Glukhovsky: Russland gibt 40 Prozent seines Haushalts aus, um diesen Krieg nicht zu verlieren. Das ist eine überlebenswichtige Frage für den Kreml, deshalb sind alle Dienste so nervös und aktiv. Putin wird sich auch nur dann auf Verhandlungen einlassen, wenn sie seinen Sieg bestätigen. Für ihn persönlich ist die Lage noch nicht kritisch. Den einzigen Versuch einer Meuterei der Wagner-Söldner hat er neutralisiert und ihren Anführer Jewgeni Prigoschin in die Luft gesprengt. Der Westen darf Putin nichts anbieten, was sein Image als Sieger stärkt. In der Folge würde er als ein legitimer Partner des Westens angesehen, sein Regime würde sich dauerhaft etablieren und Europa bekäme es für viele Jahrzehnte mit einem Russland zu tun, das als ein politischer Satellit Chinas und als dessen militärischer Rammbock gegen Europa vorgeht.


„Ich habe keine Möglichkeit, in meine Heimat zu reisen, in der russischen Sprache zu leben, das ist ein herber Schlag.“
Dmitry Glukhovsky

Welche Rolle für den Krieg spielt der Umstand, dass sich die Ukraine als demokratischer Staat etablierte?

Dmitry Glukhovsky: Laut Putin leben in der Ukraine "unsere Menschen", nach seiner Lesart sind sie "Wir". Das Hauptproblem der Ukraine ist, dass sie ein demokratisches "Anti-Russland" wurde. Die Ukraine ist ein klarer Beweis dafür, dass auch "Wir" regelmäßig und friedlich Präsidenten wechseln können, im Unterschied zu Moskau; dort herrscht der alte Putin seit 24 Jahren. Dieses alternative Staatsmodell zu Russland darf nicht existieren, denn es ist die Hauptgefahr für die autoritäre Macht, die nur mit Hilfe von Unterdrückung und politischen Morden herrscht. Deshalb spielt die Ukraine eine entscheidende Rolle in der globalen Auseinandersetzung zwischen der demokratischen und der autoritären Welt.

Viele russische Schriftsteller lebten im Exil: Herzen, Nabokov, Solschenizyn. Können Sie ohne russisches Umfeld arbeiten?

Dmitry Glukhovsky: Ich wurde zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, weil ich diesen verbrecherischen Angriffskrieg und seinen Anstifter Putin offen kritisiere. Meine Verurteilung soll andere abschrecken. Doch solange WhatsApp und Telegram funktionieren, bin ich mit Russland verbunden. Aber ich habe keine Möglichkeit, in meine Heimat zu reisen, in der russischen Sprache zu leben, das ist ein herber Schlag. Ich will noch einige Stücke schreiben, so lange ich Russland noch frisch in mir habe.

Was werden Sie danach tun?

Dmitry Glukhovsky: Schon als 17-Jähriger habe ich Russland für mein Studium verlassen, war ständig im Ausland. Aber alle meine Bücher handeln von meinen russischen Erfahrungen. Ich habe zudem starke Erlebnisse und Eindrücke aus Frankreich, Israel und Deutschland. Auch darüber werde ich schreiben. Ich habe keine Angst vor meinem neuen Lebensabschnitt und ich werde ihn möglichst positiv gestalten.

In Ihrer Erwiderung an das Gericht, das Sie in Abwesenheit verurteilte, bezeichneten Sie Putin und seinen engsten Kreis als die "wahren Verbrecher". Fürchten Sie nicht die Verfolgung durch den Kreml bis in Ihr Exil?

Dmitry Glukhovsky: (Lacht) Wir Dissidenten im Exil beobachten sehr genau, was um uns herum geschieht. Ich bin sicher, dass der FSB jeden von uns beobachtet und in unserem Umfeld Agenten platziert. Aber bislang hat der Geheimdienst noch keinen Auftrag, uns zum Schweigen zu bringen. Man muss in Kauf nehmen, dass dies vielleicht in Zukunft passieren wird. Aber ich will nicht ständig daran denken, gejagt zu werden. Es ist irgendwo in meinem Gehirn gespeichert, aber es diktiert nicht mein Handeln. Natürlich gibt es einige Sicherheitsmaßnahmen, aber ich stehe in der Öffentlichkeit ohne Angst in Erwartung eines Attentats. Es wäre dumm, so zu leben.

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