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Kolonialismus : Die unerzählte Geschichte eines Drachen

Nicola Kuhn erzählt in "Der chinesische Paravent" anhand von elf Objekten in Privatbesitz die Geschichte des deutschen Kolonialismus.

26.04.2024
2024-04-26T15:47:00.7200Z
2 Min

Was haben der Schädel einer Tüpfelhyäne aus dem Südwesten Afrikas, eine Federzeichnung des Malers Max Pechstein, die das idyllische Südsee-Motiv eines ausfahrenden Kanus und seiner Besatzung zeigt, ein chinesischer Paravent, den ein gestickter Drache mit gebleckten Zähnen und ausgefahrenen Krallen ziert, und der Schild eines Kriegers vom Volk der Massai in Ostafrika gemeinsam? Die vier so unterschiedlichen Objekte mit ihren ganz individuellen Geschichten erzählen zugleich eine gemeinsame Geschichte, über die in Deutschland lange Zeit höchst ungern, und wenn, dann meist nur beschönigend gesprochen wurde: die Geschichte des Kolonialismus des deutschen Kaiserreichs.

Kolonialgeschichte als persönliche Angelegenheit

Nicola Kuhn, Kunstkritikerin und Redakteurin des "Tagesspiegels", gelingt es, diese Geschichte zwischen den 1880er Jahren und dem Ende des Ersten Weltkriegs anhand von elf Objekten, die aus allen Teilen des ehemaligen deutschen Kolonialreiches stammen oder in einem direkten Zusammenhang mit ihnen stehen, aus sehr unterschiedlichen Perspektiven zu inszenieren.

Keines des Objekte befindet sich im Besitz eines jener Museen, die derzeit ihre Sammlungen aus kolonialen Kontexten auf ihre Erwerbsgeschichte hin untersuchen. Und es sind auch keine Objekte, die zwangsläufig als Raubkunst einzustufen wären. Es handelt sich vielmehr um Artefakte, die sich im Privatbesitz befinden und innerhalb der Familien über die Generationen weitergegeben wurden. In solchen Erbstücken verdichte sich die Kolonialgeschichte, sie werde "zur persönlichen Angelegenheit", schreibt Kuhn.

Rassismus und Exotik

Anhand jeder der Gegenstände - sei es nun die Fotografie eines erstürmten Dorfes in Kamerun, das ein deutscher Soldat gemacht hat, oder jene Trommel aus Papua-Neuguinea, die ein Angehöriger der Marine mit nach Deutschland brachte - kann Kuhn ganz spezifische Aspekte des Kolonialismus und der damaligen Denkweisen aufzeigen. Es geht um Geschäftsinteressen, Rassismus, Großmachtfantasien und Ausbeutung. Aber auch um Abenteurertum oder schlicht den Reiz der Exotik ferner Länder. Und es geht um die Frage, wie die heutigen Besitzer mit diesen Erbstücken und der eigenen Familiengeschichte umgehen.

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Die bekannte und auch von Nicola Kuhn angeführte These, "die schuldhafte Auseinandersetzung mit dem Holocaust" habe mit dazu beigetragen, dass in Deutschland eine Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus lange "verdrängt" worden sei, darf man jedoch mit einem Fragezeichen versehen. Es mag zwar sein, dass andere Staaten wie Großbritannien oder Frankreich "durch die erst späte Entlassung der von ihnen besetzten Länden in die Unabhängigkeit mit den Folgen ihrer Kolonialpolitik sehr viel stärker konfrontiert wurden".

Doch auch in diesen Ländern steht die kritische Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit allenfalls am Anfang. Sehr viel überzeugender ist da der Hinweis der Autorin, dass familiäre Loyalitäten den kritischen Blick auf die kolonialen Verstrickungen der Vorfahren verhinderten. Kuhns Buch ist in jedem Fall ein gelungener und lesenswerter Anstoß, sich einmal selbst in den eigenen vier Wänden umzuschauen.


Nicola Kuhn:
Der chinesische Paravent.
Wie der Kolonialismus in deutsche Wohnzimmer gelang.
C.H. Beck,
dtv, München 2024;
365 Seiten, 25,70 €