Geschichte der Europäischen Union : "Ein einzigartiges Unterfangen"
Der Journalist Christoph Driessen hat mit "Griff nach den Sternen" eine kurzweilige und gelungen Einstiegslektüre zur "fesselnden Story" der EU vorgelegt.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zu Besuch im EU-Parlament.
Ist es die Koketterie eines Buchautors wenn Christoph Driessen die Frage stellt, ob es möglich sei, die Geschichte der Europäischen Union "einigermaßen kompakt, verständlich und vielleicht auch noch streckenweise unterhaltsam zu erzählen"? Oder verbirgt sich dahinter die Sorge, dass die Geschichte der EU beziehungsweise ihre Politik längst nicht mehr so viel Euphorie wie in ihren Anfangstagen auslöst? Dass die vielgescholtene Brüsseler Bürokratie sowie das Wirrwarr unterschiedlichster Kompetenzen von Europäischem Rat, Ministerrat, Kommission und Parlament sowie des Europäischen Gerichtshofes inzwischen viele Bürger hoffnungslos überfordert? Zumindest einer dieser Fragen lässt sich eindeutig beantworten. Ja, die Geschichte der EU lässt sich verständlich und unterhaltsam erzählen. Der deutsch-niederländische Journalist und Historiker Driessen beweist es mit seinem Buch "Griff nach Sternen".
Altiero Spinelli skizzierte die Vision eines europäischen Bundesstaates
Dies liegt zum einen an der "fesselnden Story" selbst, die der Autor im Jahr 1941 auf der italienischen Insel Ventotene, auf der internierte Antifaschisten wie Altiero Spinelli die Vision eines zukünftigen föderalen europäischen Bundesstaates in einem Manifest skizzieren, beginnen und mit der Verleihung des Status eines EU-Beitrittskandidats an die von Russland angegriffene Ukraine im vergangenen Jahr enden lässt. Es mag wie eine bittere Ironie erscheinen, dass die Idee von einem friedlichen und geeinten Europa in den Schrecken des Zweiten Weltkrieges erste Konturen annimmt und rund 80 Jahre später erneut die Angst vor einem großen Krieg in Europa umgeht.
Vor allem gestaltet sich die Lektüre des Buches deshalb so unterhaltsam und kurzweilig, weil Driessen kein historisches Fachbuch im engeren Sinne verfasst hat, sondern im Stil einer eine journalistischen Reportage angelegt hat. Seit 1993 war er als Auslandskorrespondent in Den Haag, London und New York tätig. Er kennt die europäische und auch Weltpolitik somit aus einer sehr nahen Perspektive. Seit 2006 leitet er das Kölner Büro der Deutschen Presseagentur.
In Helmut Schmidts Hamburger Reihenhaus mit Valéry Giscard d'Estaing
So nimmt Driessen seine Leser beispielsweise mit in das Reihenhaus von Helmut Schmidt in Hamburg Langenhorn, wo der deutsche Bundeskanzler mit dem französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing 1978 im Esszimmer ein gemeinsames Währungssystem für die EG-Mitgliedstaaten ausbrüten während Schmidts Ehefrau Loki Kaffee serviert. Der Abend wird lang, die Politiker entledigen sich nach und nach Jacket und Krawatte, am Ende sitzen sie an der Hausbar. Es sind diese kleinen Anekdoten, von denen Driessen etliche auf Lager hat, und die die große Politik sehr nah und menschlich erscheinen lassen.
Christoph Driessen:
Griff nach den Sternen.
Die Geschichte der Europäischen Union.
Friedrich Pustet,
Regensburg 2024;
288 Seiten, 29,95 €
Abgerundet hat Driessen seine Darstellung mit Porträts ausgewählter europäischer Größen von Bundeskanzler Konrad Adenauer bis zur EU-Parlamentspräsidentin Simone Veill sowie Erklärstücken zu den EU- Institutionen. Sein "Griff nach den Sternen" ist die ideale Einstiegslektüre, an deren Ende man sich Helmuts Schmidts Einschätzung über die europäische Einigung anschließen kann: "Es ist in der Geschichte der Menschheit ein einzigartiges Unterfangen."