Britischer Kolonialismus in Indien : Eine Geschichte der Ausbeutung und Auslöschung
Der indische Schriftsteller und Politiker Sashi Tharoor rechnet in "Zeit der Finsternis" mit der britischen Herrschaft über sein Land ab.
Hinrichtung von indischen Aufständischen mit Kanonen während des Sepoy-Aufstandes (1857-1858) durch britische Truppen (Zeitgenössische Zeichnung).
Rund 190 Jahre dauerte die Herrschaft der Briten in Indien: von der Schlacht bei Plassey im Juni 1757, als ein kleines britisches Heer vor allem durch Bestechung die Truppen des letzten unabhängigen Herrschers von Bengalen schlug, bis zum 15. August 1947, als der erste Ministerpräsident des freien Indien, Jawaharlal Nehru, verkündete, dass Indien "zu Leben und Freiheit" erwache, es aber "nicht die Zeit für Schuldzuweisungen an andere" sei.
Der indische Schriftsteller und Politiker der Kongresspartei Shashi Tharoor hält diese Zeit jetzt für gekommen. 2016 veröffentlichte er eine scharfe Abrechnung mit der britischen Kolonialherrschaft, die nun unter dem Titel "Zeit der Finsternis" auch auf Deutsch erschienen ist. Tharoors Urteil ist eindeutig: Die Kolonialherrschaft habe Indien neben wirtschaftlicher Ausbeutung, der Zerstörung seiner Industrien, der Beseitigung traditioneller Regierungsinstitutionen und Lebensweisen auch "die Auslöschung des wichtigsten Besitzes der Kolonisierten" gebracht: "ihrer Identität und ihrer Selbstachtung".
Der Blick auf den Kolonialismus hat sich im Westen gewandelt
Nun hat sich in den westlichen Ländern der Blick auf die eigene Kolonialvergangenheit erheblich verändert. Unter Historikern und Publizisten gibt es heute kaum noch Apologeten des Kolonialismus. Das zeigt auch die Entstehungsgeschichte des Buches. Es geht zurück auf einen Vortrag, Tharoors im Mai 2015 an der Universität Oxford über das britische Empire. Die Hochschule stellte die Rede ins Netz, wo sie in kürzester Zeit viral ging.
Shashi Tharoor:
Zeit der Finsternis.
Das britische Empire in Indien.
Die andere Bibliothek,
Berlin 2024;
480 Seiten, 48,00 €
Mildernde Umstände lässt Tharoor selbst bei solchen Themen nicht gelten, bei denen gemeinhin auch heute noch eine gewisser positiver Nebeneffekt der britischen Herrschaft in Indien gesehen wird - etwa dem Eisenbahnnetz, dem Justizsystem oder der parlamentarischen Demokratie, die anders als ein Präsidialsystem "für ein riesiges und vielfältiges Land wie Indien eine ungeeignetes System" sei. Tharoors zahlen- und faktenreiche Abrechnung mit dem Kolonialismus enthält wichtige Denkanstöße - so wenn er aufzeigt, dass der Anteil Indiens am Welthandel seit der Zeit um 1700 bis zum Abzug der Briten 1947 von 23 Prozent auf nur noch vier Prozent gesunken sei. Sein Bild von Indien vor Ankunft der Briten fällt dabei allerdings ähnlich idealisiert aus wie die Antwort auf die hypothetische Frage, wie die Geschichte des Subkontinents ohne die Kolonisierung verlaufen wäre.
Hungersnöte und Massaker unter britischer Herrschaft
Ausführlich beschreibt er auch die häufigen Hungersnöte auf dem Subkontinent. Weil die Briten ihre Wirtschaftspolitik rücksichtslos durchgesetzt hätten, seien während ihrer Herrschaft bis zu 35 Millionen Inder verhungert, wobei er mehrfach den problematischen Begriff des "Kolonialholocaust" verwendet. Verbrechen wie das von einem britischen General befohlene Massaker an mindestens 379 unbewaffneten Männern, Frauen und Kindern am 13. April 1919 im nordindischen Amritsar, verlieren vor diesem ihren Hintergrund fast ihren besonderen Charakter.
Shashi Tharoor hat ein lesenswertes Buch geschrieben, das den Zeitgeist trifft, allerdings mehr dem Plädoyer eines strengen Anklägers gleicht als dem abgewogenen Urteils eines Richters.
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