Frank Trentmanns Moralgeschichte der Deutschen : Ethik ist kein Luxus
Der Historiker Frank Trentmann zeigt, wie gesellschaftliche Debatten in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg stets auch von moralischen Kategorien bestimmt waren.
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral". Zumindest publizistisch ist Frank Trentmann diesem wohl bekanntesten Zitat Bertolt Brechts aus seiner "Dreigroschenoper" gefolgt. Mit dem Buch "Die Herrschaft der Dinge" zur "Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute" landete der am Birkbeck College der Universität London forschende und lehrende deutsche Historiker einen vielgelobten Erfolg. In Österreich wurde es 2018 gar als Wissenschaftsbuch des Jahres in der Kategorie "Geistes-, Sozial-, Kulturwissenschaft" ausgezeichnet. Nun hat Trentmann mit "Aufbruch des Gewissens" eine Moralgeschichte der Deutschen von 1942 bis heute vorgelegt. Und diese stellt die gängige Interpretation des Brecht-Zitates, dass der Mensch erst dann fähig sei, sich mit der Moral auseinanderzusetzen, wenn seine Grundbedürfnisse, sprich das nackte Überleben, gesichert sind, auf die Probe.
Eine Frage des Gewissens: In vielen deutschen Städten wie hier in Erfurt demonstrieren derzeit hunderttausende Menschen aus Sorge um die Demokratie gegen die AfD.
Trentmann beginnt seine Geschichte der Deutschen eben nicht erst im Jahr 1945, im Moment der bedingungslosen Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschlands, als das Land materiell wie moralisch in Trümmern liegt. Seine Betrachtung setzt drei Jahre früher ein, als der Zweite Weltkrieg seinem Höhe- und zugleich seinem Wendepunkt zustrebt. Im November 1942 erstreckt sich das deutsche Herrschaftsgebiet vom Atlantik bis nach Stalingrad an die Wolga. Doch Ende 1942 wendet sich der Kriegsverlauf mit den Schlachten von Stalingrad und El Alamein in Nordafrika zugunsten der Alliierten. Und in Deutschland versinken immer mehr Städte unter den Bombenangriffen in Schutt und Asche.
Erste Risse in der Gewissheit von der eigenen Unbesiegbarkeit
Trentmann zeigt auf, wie sich unter dem Eindruck der Kriegswende in Teilen der deutschen Zivilbevölkerung und auch bei den Soldaten zumindest erste Risse in der vorherrschenden Gewissheit von der eigenen Unbesiegbarkeit und auch eingebildeten moralischen Überlegenheit auftun. Gleichzeitig beobachtet er aber auch eine noch einmal zunehmende Fanatisierung vieler Deutscher. Dieser Trend zur Ambivalenz in der deutschen Gesellschaft habe sich bis zum katastrophalen Kriegsende verstärkt. In der Folge seien die Nationalsozialisten mit immer drakonischeren Strafen gegen das eigene Volk vorgegangen.
Für die Zeit nach der Niederlage widerspricht Trentmann der weitverbreiteten These, die Deutschen hätten sich ausschließlich ins Schweigen geflüchtet über die von ihnen oder in ihrem Namen begangenen Verbrechen. Weder das Narrativ, die Deutschen hätten angesichts von Hunger und ihres zerbombten Landes "schlicht nicht die Kraft gehabt, sich über Recht und Unrecht Gedanken zu machen" noch die These, der Vorwurf der "Kollektivschuld" durch die Alliierten "habe die Deutschen traumatisiert", treffe zu. Ebenso irreführend sei die Deutung der Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich, die Deutschen seien unfähig zur Trauer gewesen.
Über das Leid der Juden wurde nur wenig gesprochen
Zum einen sei Ethik kein Luxus, betont Trentmann. "Auch die Armen auf der ganzen Welt haben moralische Bedenken." Zum anderen hätten die Alliierten die Deutschen formal gar nicht zur Verantwortung gezogen. Sie seien auch nicht unfähig zur Trauer gewesen, sondern hätten um die eigenen Angehörigen getrauert und nicht um die jüdischen Opfer des Holocaust, schreibt Trentmann und verweist darauf, dass bis in die 1960er Jahre auch in den Ländern der Alliierten sehr wenig über das Leid der Juden gesprochen worden sei. Es sei bekannt, worüber die Deutschen nach 1945 nicht sprachen, größere Aufmerksamkeit sollte jedoch darauf gelegt werden, was sie sagten. Dies kann man bei Trentmann erfahren. Er schöpft die Quellen voll aus und lässt die Zeitzeugen ausführlich zu Wort kommen.
Wer glaubt, Trentmann habe lediglich eine weitere Darstellung zur Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit vorgelegt, der irrt. Sein lesenswertes Buch behandelt viele der großen Fragen, die die Deutschen nach der Katastrophe von 1945 beschäftigten. Den Aufbau der beiden deutschen Staaten in Ost und West und deren spätere Wiedervereinigung, die Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso wie die Aufnahme von Asylbewerbern und Flüchtlingen in heutiger Zeit, das Waldsterben und der Umweltschutz, die Wiederbewaffnung, die Auslandseinsätze der Bundeswehr oder aktuell die militärische Unterstützung für die Ukraine. Selbst der Frage, was es denn nun mit den sparsamen Deutschen auf sich hat, geht Trentmann nach.
Sein voluminöses Buch widerspricht der weitverbreiteten Ansicht, gesellschaftliche Debatten seien aktuell zu sehr von moralischen Kategorien überlagert. Fakt ist, dass dies in Deutschland nach 1945 meist so war. Trentmanns abschließendes Urteil fällt denn auch durchaus positiv aus. Deutschland habe nach dem Zweiten Weltkrieg "ein beachtliches moralisches Kapital angesammelt". Und der Wiederaufbau, die Wiedervereinigung und die Aufnahme von zwei Millionen Flüchtlingen hätten gezeigt, dass Deutschland in der Lage sei, sein wirtschaftliches Kapital neu auszurichten. Davon werde auch die weitere Zukunft des Landes abhängen.
Frank Trentmann:
Aufbruch des Gewissens.
Eine Geschichte der Deutschen von 1942 bis heute.
S. Fischer,
Frankfurt/M. 2023;
1.036 Seiten, 48,00 €