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Ukraine-Krieg : Im Bunker mit Wolodymyr Selenskyj

Der amerikanische Journalist Simon Shuster hat mit "Vor den Augen der Welt" eine der besten Darstellungen über den Ukraine-Krieg vorgelegt.

14.03.2024
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4 Min
Foto: picture-alliance/Sven Simon-ThePresidentialOfficeUkraine

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verschafft sich im Juli 2022 während eines Truppenbesuchs einen Überblick über die militärische Lage an der Front.

Zum 45. Geburtstag ihres Mannes am 25. Januar 2023 postete Olena Selenska, er sei derselbe Typ geblieben, den sie im Alter von 17 Jahren kennengelernt habe. Einschränkend fügte sie hinzu: "Du lächelst jetzt viel weniger." Ihr Mann, Präsident Wolodymyr Selenskyj, habe - wie die Mehrheit der Ukrainer - bis zum letzten Tag nicht geglaubt, dass Russland die Ukraine angreifen werde. "Wir hätten nie gedacht, dass so etwas passieren könnte, denn das ganze Gerede über den Krieg war nur Geschwätz gewesen", erzählt die First Lady. Deshalb schlief sie mit ihrem Mann und den beiden Kindern in der ungeschützten Präsidialresidenz, die in der ersten Kriegsnacht von einer einzigen Rakete hätte zerstört werden können.

Als der Krieg begann, wurde die Familie getrennt: Sicherheitskräfte fuhren Olena Selenska mit Tochter und Sohn monatelang durch das Land, täglich musste der Wohnort gewechselt werden, um den Aggressoren keine Möglichkeit zu geben, sie als Geiseln zu nehmen - das hätte den Präsidenten erpressbar gemacht.

Neuer Alltag: Ständige Wechsel des Aufenthaltsortes

Noch wenige Tage vor Kriegsbeginn hatte die Familie Selenskyj Angebote erhalten, ins Ausland zu fliehen. Dem Präsidenten wurde empfohlen, eine Exil-Regierung zu bilden. Um die Chancen der Ukrainer stand es schlecht: Am ersten Kriegstag gab der Westen dem Land maximal drei Tage bis die russischen Truppen Kiew erobern. Unterdessen führte Selenskyj sein Land aus einem Bunker mitten in Kiew; an die Einwohner der Hauptstadt waren 25.000 Kalaschnikow-Sturmgewehre zur Verteidigung ausgegeben worden.

Auch Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk, ein alter Freund Selenskyjs, musste seinen Zufluchtsort ständig wechseln, da er als offizieller Nachfolger des Präsidenten gegebenenfalls die Staatsführung hätte übernehmen müssen. Nachdem der Präsident das Kriegsrecht landesweit verhängt hatte, rief Stefantschuk als Sprecher der Werchowna Rada eine Dringlichkeitssitzung des Parlaments ein, um das Präsidialdekret offiziell beschließen zu lassen. Denn damit wurde insbesondere die Legislativfunktion des Parlaments außer Kraft gesetzt. "Nicht jeder Generation von Ukrainern wird die Ehre zuteil, für die Unabhängigkeit ihres Staates zu sterben", rief der Parlamentspräsident den Fraktions- und Ausschussvorsitzenden zu.

"Time"-Reporter Shuster ist Zeitzeuge vor Ort

Bislang hat kein anderes Buch die Ereignisse seit Kriegsbeginn in der Ukraine so exzellent beschrieben wie das überaus empfehlenswerte Buch "Vor den Augen der Welt" des amerikanischen "Time"-Reporters Simon Shuster. Bereits drei Jahren vor dem Krieg hatte er Selenskyj zum ersten Mal interviewt, danach blieb er in Kiew und verfolgte das Kriegsgeschehen als Zeitzeuge vor Ort. Mehrmals sprach er mit Olena und Wolodymyr Selenskyj, mit dessen engsten politischen Weggefährten, Verbündeten und Freunden. Selenskyj hatte entschieden, dass Shuster, ein Amerikaner mit russisch-ukrainischen Wurzeln, der Öffentlichkeit die Beweggründe für sein Handeln offenlegen sollte. Dazu gehört auch die Vorgeschichte: Selenskyj und seine Familie avancierten mit Beginn seiner politischen Karriere nicht nur zu Feinden der russischen Staatspropaganda. Zu seinen Widersachern zählten auch die Medienkonzerne der mächtigen ukrainischen Oligarchen, die Selenskyj entmachten wollte.


Simon Shuster:
Vor den Augen der Welt.
Wolodymyr Selenskyj und der Krieg in der Ukraine.
Goldmann,
München 2014;
527 Seiten, 26,00 €


Kenntnisreich berichtet Shuster über die Hintergründe der politischen und militärischen Entwicklungen im Verlauf des Krieges. Er führte zahlreiche Gespräche mit ukrainischen Militärs, darunter mit dem erst kürzlich entlassenen Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj. Durchaus kritisch merkt er an, Selenskyj habe "durch sein Verhalten vor der Invasion zumindest eine Teilschuld am dürftigen Zustand der Landesverteidigung". Dies sei allerdings auch dem Umstand geschuldet gewesen, dass Selenskyj Wladimir Putin nicht mit Kriegsvorbereitungen habe provozieren wollen. Schließlich sei er ins Amt gewählt worden, weil er im Wahlkampf vor allem für Frieden geworben habe.

Einordnung der Entwicklung der Ukraine in die regionalen und globalen Konflikte

Fesselnd beschreibt Shuster, in welch dramatischer Situation sich Selenskyj befand, der im Dezember 2019 ganz auf das persönliche Treffen mit Putin gesetzt hatte, um einen Krieg zu verhindern. Zugleich ordnet er die Entwicklung in der Ukraine in die regionalen und globalen Konflikte ein. Schon früh sei klar erkennbar gewesen, wie tief Putins Furcht und Ressentiments gegenüber dem Westen waren und dass er das Existenzrecht der ukrainischen Nation ablehnte. Ausgerechnet der russischsprachige Jude Selenskyj, der in Russland ebenso populär war wie in der Ukraine, störte Putins paranoide Vorstellung von der Ukraine als "Anti-Russland".

Nach dem russischen Einmarsch habe Selenskyj bei der ersten sich bietenden Gelegenheit Friedensverhandlungen akzeptiert. Sie scheiterten jedoch, nachdem die Unterhändler nicht weiterkamen und es den Staatsoberhäuptern überließen, Lösungsmöglichkeiten zu finden. Für Selenskyj wäre selbst die angestrebte Nato-Mitgliedschaft verhandelbar gewesen, hätte sein Vorgänger Petro Poroschenko dies kurz vor seiner Wahlniederlage nicht in der Verfassung verankert.

Shusters hervorragendes Buch ist auch all jenen sogenannten "Experten" zu empfehlen, die in Talkshows über angebliche "Friedensangebote" Putins fabulieren und die imperialistische Politik des Kremlherrn schönreden. Neben den Büchern von Serhii Plokhy gehört es zu den Büchern über die Ukraine, die man unbedingt gelesen haben sollte.

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