Deutsche Erinnerungskultur : Kniefallend zur Versöhnung
Publizist Max Czollek lotet in "Versöhnungstheater" die Untiefen deutschen Erinnerns aus.
Die Deutschen werden den Juden Auschwitz niemals verzeihen, so haben es die Journalistin Hilde Walter und auch der israelische Arzt Zvi Rix beschrieben. Ob der so bittere wie hellsichtige Satz dem Berliner Autoren Max Czollek ein Begriff ist, ist nicht bekannt - als Motto für sein Buch "Versöhnungstheater" könnte er allemal taugen. Czollek begibt sich auf die Suche nach den Untiefen deutscher Erinnerungskultur. Es ist, als ob da jemand am offiziellen Gedenktag mitten im Vortrag aufstünde, das Blumengedeck vom Tisch wischte und riefe: Geht's hier um die Opfer? Oder doch am Ende nur um Euch?
Czollek beobachtet drei Phasen des Erinnerns, beginnend mit einem verbreiteten Schweigen und Leugnen nach 1945, wie es in Konrad Adenauers erster Regierungserklärung aufscheine: Die überwiegende Mehrheit der Deutschen hätte sich an den Verbrechen gegen Juden nicht beteiligt, befand der erste Bundeskanzler - eine glatte "Falschbehauptung", wie Czollek schreibt. Aber auch die zweite Phase, symbolisch verdichtet im Kniefall Willy Brandts vor dem Ehrenmal des jüdischen Ghettos in Warschau, sei voller Tücken: Reden, Gedenkstätten, Kniefälle - der Autor macht eine "beispiellose Intensivierung des Symbolischen" aus. "Lieber noch zwanzig Denkmäler bauen, als Täter zur Rechenschaft zu ziehen." Ab 1990 dann die dritte Phase, die "Wiedergutmachung Deutschlands" als gemeinsame Erzählung des wiedervereinigten Landes.
Czollek stellt Bezüge zu aktuellen Debatten und Leerstellen her
Ein Auseinandertreten von Selbstbild und Realität, von Verantwortung und symbolischer Handlung ist für Czollek Kern des deutschen "Versöhnungstheaters". Überzeugend macht er das an der schwachen juristischen Aufarbeitung fest. Anders, als man mit Blick auf Nürnberg und die Frankfurter Auschwitzprozesse in Deutschland gerne glaube, habe der Rechtsstaat den allerwenigsten Tätern den Prozess gemacht. Während etwa 1,35 Millionen Menschen den industriell organisierten Massenmord an den Juden ins Werk gesetzt hätten, seien später in den westlichen Besatzungszonen und in der Bundesrepublik gerade einmal 11.500 bis 12.000 Personen vor Gericht gestellt worden, rechnet Czollek vor. Die Erinnerungskultur ermöglichte "das einmalige Kunststück, sich selbst in ein gutes Licht zu rücken, ohne dass Papa oder Opa am Ende doch noch ins Gefängnis musste, weil er Menschen beraubt, vergewaltigt oder erschossen hatte" lautet das gallige Fazit des Autors, der zudem Bezüge zu aktuellen Debatten herstellt: Die "Zeitenwende", Streit ums preußische Erbe, fehlende Teilhabe migrantischer Communities, rechter Terror vom NSU bis Halle und Hanau. Gerade hier hinterlasse die deutsche Erinnerungskultur nämlich die offensichtlichsten Leerstellen, findet der Autor.
Czolleks Erkundungen deutschen Erinnerns sind getragen von vielen Der-Kaiser-ist-nackt-Momenten und der Freude an polemischer Zuspitzung. Die Annahme, dass sich die Deutschen in toto ihre Vergangenheit zurechtbiegen, überzeugt indes nicht, es reicht ein Gang in eine beliebige deutsche Universitätsbibliothek und ein Blick auf die dort zu findenden Regalmeter historischer Forschung zum Nationalsozialismus. Bedenkenswert aber bleibt Czolleks Einwand: Der Holocaust ist etwas, das sich nicht einfach überbrücken, beflissen aufarbeiten, wiedergutmachen lässt. Der Akt der Erinnerung bedeute nicht auch schon, dass es Versöhnung geben könne.
Max Czollek:
Versöhnungstheater.
Hanser Verlag,
München 2023;
285 Seiten, 22,00 €