Deutscher Kolonialismus : Mit Flüchen und Hieben
Der Band "Das Auswärtige Amt und die Kolonien" beleuchtet die Rolle des Ministeriums in der deutschen Kolonialpolitik aus verschiedenen Blickwinkeln.
Nicht weniger als eine Veränderung im Koordinatensystem der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur konstatieren die Herausgeber des Sammelbandes "Das Auswärtige Amt und die Kolonien". Die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte sei neben die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust getreten, schreibt das Wissenschaftlerquartett Carlos Alberto Haas, Lars Lehmann, Brigitte Reinwald und David Simo.
Klare Rollenverteilung: Der Reichstagsabgeordnete Otto Arendt (Deutsche Reichspartei) wird in Deutsch-Ostafrika von Einheimischen in einer Rikscha befördert. Die Aufnahme entstand vermutlich 1906 während einer Reise Arendts in die Kolonie.
Kolonialgeschichte als Teil der Erinnerungskultur
Es darf allerdings bezweifelt werden, dass dieses Kapitel der deutschen Geschichte zwischen 1884 und 1914 jemals eine solche Wirkmächtigkeit im Bewusstsein der Deutschen entwickeln wird wie die zwölfjährige NS-Diktatur und all ihrer Menschheitsverbrechen. Nicht zuletzt auch deswegen, weil "den Deutschen" im Fall ihrer Kolonialgeschichte jenes Leid am eigenen Leib erspart blieb, dass sie in der NS-Zeit heraufbeschworen hatten.
Bereits in ihrem Koalitionsvertrag von 2018 hatten Union und SPD erstmals die Kolonialgeschichte neben der NS-Zeit und der SED-Diktatur als Teil der Erinnerungskultur benannt. So ist auch der Band "Das Auswärtige und die Kolonien" ein Ergebnis dieses politischen Prozesses. Initiiert wurde das Buch noch von Außenminister Heiko Maas (SPD), die Finanzierung übernahm das Auswärtige Amt, und Anfang Juni dieses Jahres stellte es Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) der Öffentlichkeit vor. Das Ministerium setzt damit die Aufarbeitung seiner eigenen Geschichte fort. Bereits 2010 war der noch vom ehemaligen Außenminister Joschka Fischer (Grüne) angestoßene Band "Das Amt und seine Vergangenheit" über die Verstrickungen in die Verbrechen des Nationalsozialismus erschienen.
Das Reichskolonialamt war direkt dem Reichskanzler unterstellt
Die 17 Beiträge des Sammelbandes zur Kolonialpolitik - unter ihnen auch mehrere von Wissenschaftlern aus Ländern des ehemaligen deutschen Kolonialreichs verfasst - beschränken sich jedoch nicht allein auf die Rolle des Auswärtigen Amtes, sondern bieten einen guten Überblick zur Kolonialpolitik des Deutschen Kaiserreichs im Konzert der damaligen Großmächte insgesamt und beleuchten auch den Umgang mit Kolonialbestrebungen in der Weimarer Republik und der NS-Zeit. Thematisiert werden zudem die Rolle des Auswärtigen Amtes in der Phase der Dekolonisation nach dem Zweiten Weltkrieg und der Umgang mit dem kolonialen Erbe.
Direkt involviert in die kolonialen Belange des Kaiserreichs war das Auswärtige Amt vor allem über seine Kolonialabteilung und das daraus hervorgegangene Reichskolonialamt als eigenständige Behörde. Der Umstand, dass sowohl die Kolonialabteilung wie auch das Reichskolonialamt direkt dem Reichskanzler unterstanden, zeigt bereits, wer in der Kolonialpolitik letztlich das Sagen hatte. Zuständig waren sie vor allem für Verwaltungsfragen, die Finanzen, das Verkehrs- und Bauwesen in den Kolonien, aber auch für die dort stationierten militärischen "Schutztruppen".
Die Beamten in Berlin wären durchaus auch zuständig gewesen, den Gewaltexzessen der Kolonialherren vor Ort gegen die einheimische Bevölkerung Einhalt zu gebieten. Doch die Haltung der Beamten sei vor allem geprägt gewesen von Ignoranz und der Furcht vor unliebsamen Debatten in der deutschen Öffentlichkeit, wie die Historikerin Tanja Bührer am Beispiel der Kolonie Deutsch-Ostafrika herausarbeitet.
Prügelstrafen und Auspeitschungen
Wie alltäglich Gewalt im Alltag der Kolonien war, zeigt beispielsweise der Beitrag des Kulturwissenschaftlers Kokou Azamede über die deutsche Herrschaft in Togo. Zur Aufrechterhaltung der Ordnung war dort 1855 eine eigene Polizeitruppe gebildet worden, deren Angehörige aber nicht aus der einheimischen Bevölkerung rekrutiert wurden, sondern der ethnischen Gruppe der Hausa in Nigeria und Niger angehörten. Das Kommando über die Söldnertruppe wurde einem deutschen Feldwebel übertragen, der sie mit preußischem Reglement und "Flüchen und Hieben" drillte: Sein Ziel: Die Truppe sollte im "Einsatz willig" sein, "die eingedrillte Rücksichtslosigkeit gegenüber der Bevölkerung anzuwenden".
Carlos Alberto Haas, Lars Lehmann, Brigitte Reinwald, David Simo (Hg.):
Das Auswärtige Amt und die Kolonien.
C.H. Beck,
München 2024;
592 S., 36,00 €
Mit Prügelstrafen und Auspeitschungen wurden regelmäßig einheimische Bewohner in den als "Schutzgebiete" bezeichneten Kolonien diszipliniert, wenn sie sich auflehnten. Und die Kolonialherren spielten die unterschiedliche Ethnien gegebenenfalls rücksichtslos gegeneinander aus. Kollaboration war ebenso Teil der Realitäten wie Widerstand. In ein allzu einfaches Täter-Opfer-Schema, wie es in der öffentlichen Debatte mitunter propagiert wird, lässt sich die Kolonialgeschichte nicht pressen. Und die Autoren des lesenswerten Bandes tun dies auch nicht.
Tiefsitzender Rassismus der Kolonialherren
Deutlich wird bei der Lektüre aber auch, dass sich die Alltagsgewalt ebenso wie die Völkermorde an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika und während des Maji-Maji-Aufstandes in Deutsch-Ostafrika nicht zuletzt aus einem tiefsitzenden Rassismus der weißen Kolonialherren gegenüber den beherrschten Völkern speiste. Bei Carl Peters, Vertreter der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft, klang das dann so: Die Afrikaner seien allein durch "männliche Energie und rücksichtslose Gewalt" zu beeindrucken.