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Klassenfragen : "Oft sind unsichere Arbeitsverhältnisse die Norm"

Ob in der Pflege, Paketzustellung, Spargelernte oder Gebäudereinigung: Die Soziologin Nicole Mayer-Ahuja im Interview über "verkannte Leistungsträger:innen".

20.12.2021
True 2023-11-02T16:36:43.3600Z
6 Min
Foto: picture-alliance/dpa/P. Zinken

Helden der Pandemie: Beschäftigte der Berliner Charité traten im Spätsommer in den Streik.

Frau Mayer-Ahuja, in dem von Ihnen mit herausgegebenen Sammelband beleuchten sie mehr als 20 Berufsgruppen. Es geht beispielsweise um den Arbeitsalltag in der Pflege, der Paketzustellung, der Spargelernte, der Gebäudereinigung und im Einzelhandel. Was verbindet diese "verkannten Leistungsträger:innen"?

Nicole Mayer-Ahuja: Soziologisch gesprochen sind es diejenigen, die mit ihrer Arbeit dazu beitragen, dass Arbeitskraft wiederhergestellt und gesellschaftliche Strukturen reproduziert werden. Zum Beispiel, indem sie Arbeitskraft überhaupt erst verfügbar machen, weil sie in Kitas professionelle Sorgearbeit leisten. Das sind die Menschen, die, wie es Angela Merkel sagte, den Laden am Laufen halten. Diese Beschäftigtengruppen stehen normalerweise nicht im Fokus der öffentlichen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeit.

Woran machen sie fest, dass die Leistung verkannt wird? Geht es ums Geld?

Nicole Mayer-Ahuja: Darum geht es auch. Wir argumentieren, dass diese gesellschaftlich notwendige Arbeit und jene, die sie ausüben, lange aus dem Blick geraten waren. Wie hochgradig wichtig diese Leistung ist, das hat in der Pandemie nun auch der Letzte begriffen. Wir haben es in den Beschäftigtengruppen sehr oft mit Frauen und migrantischen Beschäftigen zu tun. Die Löhne und Gehälter sind niedrig. Oft sind unsichere Arbeitsverhältnisse die Norm: befristete Verträge, nicht sozialversicherungspflichtige Mini-Jobs oder Alleinselbstständigkeit wie beispielsweise in der Paketzustellung.

Zu Beginn der Pandemie wurde dazu aufgerufen, für die Heldinnen und Helden der Pandemie zu klatschen. Hat sich etwas in der Anerkennungskultur geändert?

Nicole Mayer-Ahuja: Das kommt stark auf dem Bereich an. Für die Kolleginnen und Kollegen im Einzelhandel hatte sich das Klatschen schon im zweiten Lockdown relativiert. Die Kundinnen und Kunden haben ihren Frust im Supermarkt rausgelassen. Materielle Verbesserung hat es für die Beschäftigen auch nicht gegeben. Anders sieht das in der Krankenhauspflege aus.


„Solidarität ist da die Ausnahme, nicht die Regel.“
Soziologin Nicole Mayer-Ahuja

Inwiefern?

Nicole Mayer-Ahuja: Die Pandemie hat besonders deutlich werden lassen, dass der seit Jahren bekannte Pflegenotstand dringend behoben werden muss - und dass sich dafür etwas an den Löhnen und Arbeitsbedingungen ändern muss. Die Tarifabschlüsse für die unteren Gehaltsgruppen im öffentlichen Dienst waren jüngst überdurchschnittlich hoch. Das liegt zum einen an der öffentlichen Aufmerksamkeit, zum anderen daran, dass die Beschäftigten begonnen haben, sich zu organisieren und zu streiken. Wir sind aber weit davon weg, dass es nun schön wäre, in der Pflege zu arbeiten. Im letzten Jahr haben viele Pfleger und Pflegerinnen ihren Job verlassen, weil sie unter den Arbeitsbedingungen leiden. Dieser Bereich ist dennoch ein Positivbeispiel. In anderen Bereichen sehen wir solche Entwicklungen nicht. Bei den Lieferdiensten ist hingegen etwas mehr Bewegung zu sehen.

In einem Beitrag zu diesen Lieferdiensten beschreibt der Autor, wie die Beschäftigen quasi nur noch per App mit dem Unternehmen kommunizieren und teils von einer Roboterstimme angerufen werden, wenn es Probleme gibt. Welche Wirkung hat das auf die Beschäftigten?

Nicole Mayer-Ahuja: Es führt zu einer Distanzierung vom Unternehmen. Das Gegenüber verschwindet. Wo man keinen Menschen mehr hat, um Probleme klären zu können, führt das zu Hilflosigkeit und einem Gefühl des Ausgeliefertseins. Das ist nicht nur bei den "Ridern" der Lieferdienste so, sondern auch in der Paketzustellung. Dort wird mittels digitaler Hilfsmittel auch Kontrolle ausgeübt, etwa über die Sendungsverfolgung. Das Problem des Verschwindens des Gegenübers wird mit der Digitalisierung dringlicher, aber die Situation ist schon länger so.

Was meinen Sie damit?

Nicole Mayer-Ahuja: Selbst in großen Unternehmen argumentiert das Management oft, dass man gar nicht über Löhne und Arbeitsbedingungen entscheiden könne, da man sich nach dem Markt, der Kundschaft oder der Konkurrenz zu richten habe. Das sind Sachzwangargumente, die dazu führen, dass die Entscheidungen und die Akteure, die dahinter stehen, aus dem Blick geraten. Das ist aber ein Problem: Denn um die Verhältnisse zu ändern, muss man zunächst verstehen, dass sie auch anders sein könnten, dass jemand entschieden hat, dass es so sein soll.

Foto: Klaus-Peter Wittemann
Nicole Mayer-Ahuja ist Arbeitssoziologin. Sie hat die Professur für die Soziologie von Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft an der Georg-August-Universität Göttingen inne.
Foto: Klaus-Peter Wittemann

Bei einem Start-up der Branche, dem Lebensmittel-Lieferant "Gorillas" aus Berlin, haben Beschäftigte im Sommer versucht, ihre Arbeitsbedingungen zu ändern, und sind teils in wilde Streiks getreten. Was tut sich in der Branche?

Nicole Mayer-Ahuja: In der Branche gibt es viele neue Firmen, die sehr schnell gewachsen sind. Dort herrschen teils fragwürdige Arbeitsbedingungen. Der Fall von "Gorillas" ist sehr interessant, weil es die Beschäftigten geschafft haben, sich zu organisieren.

Woran lag das?

Nicole Mayer-Ahuja: Das liegt am Geschäftsmodell. Die Beschäftigen müssen zu bestimmten Sammelpunkten kommen, um die Ware zum Ausliefern abzuholen. Dort sind die Rider miteinander ins Gespräch gekommen. Es entwickelte sich eine Dynamik, die auch mit massiven Missachtungserfahrungen zu tun hat. Schon im Winter 2020, als es in Berlin besonders kalt war und Schnee lag, hatten Rider für bessere Schutzausrüstung und bessere Kleidung protestiert. Da fing es in vielen Unternehmen an, zu brodeln.

In dem Band werden branchenübergreifend reihenweise unzumutbare Arbeitsbedingungen beschrieben. Müsste es nicht deutlich mehr Arbeitskämpfe geben?

Nicole Mayer-Ahuja: Ja, aber das ist teilweise schwierig. Gerade bei personenbezogenen Dienstleistungen - in der Pflege, in der Kita - gibt es oft eine große Zurückhaltung der vor allem weiblichen Beschäftigten, das Unternehmen zu bestreiken, da dann ja die Patienten, Kinder oder Eltern leiden würden. Das ist ein sehr wirkungsvoller Mechanismus, der über Jahrzehnte Arbeitskämpfe verhindert hat. In Bereichen wie der Fleischindustrie mit einem hohen Anteil migrantischer Beschäftigter wirkte die Rekrutierung über Subunternehmen und die Vermittlung an Unternehmen mittels Leiharbeit oder Werkvertrag als Unterdrückungsmechanismus, der Organisation schwierig macht. Das heißt aber nicht, dass nichts geht. Ein erstaunliches Beispiel im Buch ist der transnationale Arbeitskampf bei einer Billigfluglinie. Dort ist es den Beschäftigten gelungen, über Sprachbarrieren und verschiedene Arbeitsrechtkontexte hinweg bessere Arbeitsbedingungen zu erstreiten.

Der Untertitel ihres Bandes heißt "Berichte aus der Klassengesellschaft", in Ihrem Essay sehen Sie in der Klassenpolitik den Ansatz, um die Bedingungen zu ändern. Das sind kämpferische und durchaus provokante Begriffe...

Nicole Mayer-Ahuja: Ja, Klassenpolitik ist ein Reizwort, auch Klassengesellschaft macht stutzig. In Deutschland war es lange nicht möglich, die Dauerhaftigkeit und Stabilität von sozioökonomischer Ungleichheit und Klassenunterschieden zu diskutieren. Es gab die Auffassung, dass der Unterschied zwischen Kapital und Arbeit keine große Rolle mehr spielt und dort, wo er es noch tut, an Bedeutung verlieren wird. Wir sehen aber, dass er eben doch eine Rolle spielt. Unternehmen sind vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen. Viele Beschäftigte, etwa Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, haben ihren Job verloren oder sind nach langer Kurzarbeit hoch verschuldet. Und obwohl etwa im Grundgesetz, Artikel 3, alle möglichen Arten von Diskriminierung verboten werden, nur nicht die aufgrund von Klassenzugehörigkeit, hängen Lebenschancen eben doch stark von der sozioökonomischen Position ab.


„Die Kundinnen und Kunden haben ihren Frust im Supermarkt rausgelassen.“
Soziologin Nicole Mayer-Ahuja

Wo setzt die Klassenpolitik an?

Nicole Mayer-Ahuja: Es geht darum, Arbeitende zusammen zu bringen, die nicht viel miteinander zu tun haben oder sogar in Konkurrenz zueinander stehen. Kapitalismus heißt ja, dass der Wettbewerb zwischen Unternehmen, Standorten, aber auch Arbeitenden permanent geschürt wird. Solidarität ist da die Ausnahme, nicht die Regel. Klassenpolitik heißt, trotzdem gemeinsame Interessen zu verfolgen und gegen die zugrundeliegende Wettbewerbs-Logik des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems anzuarbeiten. Erfolge sind möglich, aber sie werden immer wieder in Frage gestellt.

Welche Rolle spielt dabei die klassische Politik? Wie bewerten Sie zum Beispiel den Koalitionsvertrag?

Nicole Mayer-Ahuja: Ich hatte zum Beispiel auf die Abschaffung von Mini-Jobs gehofft. Immerhin hat die Pandemie gezeigt, dass diese Grauzone des Arbeitsmarktes ein riesiges Problem ist und dringend ausgeleuchtet gehört. Beschäftige fallen von heute auf morgen aus ihrem Arbeitsverhältnis und haben keinen Anspruch auf Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld. Nun will die Koalition die Verdienstgrenze für Mini-Jobs sogar anheben. Damit werden noch mehr Menschen unter diesen Bedingungen arbeiten. Es geht aber auch anders: Nach jahrelangen Protesten und Konflikten ist es gelungen, in der Fleischindustrie die Werkverträge zu verbieten. Von daher ist es wichtig, die Politik in die Verantwortung zu nehmen und an Punkten, an denen es offenkundig Verbesserungen braucht, nicht nachzulassen.

Nicole Mayer-Ahuja, Oliver Nachtwey (Hg.):
Verkannte Leistungsträger:innen
Bericht aus der Klassengesellschaft
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2021;
567 Seiten, 22,00 €