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Moral in der öffentlichen Debatte : Statussymbol der kreativen Klasse

In "Moralspektakel" enttarnt der Philosoph Philipp Hübl so manche öffentliche Empörung in der Gesellschaft als eine neue Form der Selbstdarstellung.

28.06.2024
True 2024-06-28T15:16:21.7200Z
2 Min

Für die Menschen in der westlichen Hemisphäre ist das "Zeitalter des Moralspektakels angebrochen", die Alltagsmoral unterscheidet sich fundamental von einer universellen Ethik der Menschenrechte. Diese und ähnlich kritische Feststellungen von Philipp Hübl sind für "woke" Aktivisten pure Provokation. Mit genau dieser Absicht verfasste der Philosoph sein Buch "Moralspektakel".

Hübl hält der neuen digitalen Öffentlichkeit den Spiegel vor und betont, dass es ihr in der Regel nicht um die Sache selbst gehe, sondern schlicht um Selbstdarstellung. Moral werde dann zum Spektakel, so definiert es Hübl, wenn "moralische Begriffe und Urteile nicht eingesetzt werden, um Probleme des Zusammenlebens zu lösen, echte Missstände zu beseitigen und für die Gerechtigkeit zu sorgen". Stattdessen gehe es nicht selten um andere soziale Funktionen - um Statussymbole und Gruppenzugehörigkeit, vor allem aber um Macht und Einfluss.

Ausdruck einer fundamental veränderten Diskussionskultur

Zu den Spielarten des Moralspektakels zählt der Autor eine Einschüchterungskultur, "die manchmal missverständlich Cancel Culture genannt wird". Menschen, deren Wertvorstellungen nicht opportun erschienen, mit Argumenten aber nicht widerlegt werden könnten, würden öffentlich nicht nur unter Druck gesetzt. Vielmehr würden verschiedene Initiativen darauf abzielen, die Lebensgrundlage der unliebsamen Personen zu zerstören. Dieses Moralspektakel, so betont Hübl, existiere in allen Branchen und Lebensbereichen. Mit eindrücklichen Beispielen belegt er, wie es funktioniert. Auf eine schlichte Formel gebracht lautet seine These: Statusspiel + digitale Medien = Moralspektakel. Es sei Ausdruck einer "fundamental veränderten öffentlichen Diskussionskultur", in der die Debatten nicht nur inhaltlich, sondern emotional polarisiert sind. Für Kompromissbereitschaft und Zwischentöne bleibe da nur wenig Platz.


Philipp Hübl:
Moralspektakel.
Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht.
Siedler Verlag,
München 2024;
336 S., 26,00 €


Hübl zeigt zudem auf, welche Teile der Gesellschaft dafür besonders empfänglich sind. Ausgerechnet höher gebildete Menschen - Hübl nennt sie die "kreative Klasse" - scheinen ihre politische Haltung stärker als andere moralisch aufzuladen. Insbesondere Intellektuelle neigten dazu, Fakten zu ignorieren, sobald sie ihrem Weltbild widersprechen. Es sei kein Zufall, dass globale Studien vor allem in reichen demokratischen Gesellschaften den Hang zur moralischen Empörung beobachten können. Der Grund: Dort gebe es die geringsten materiellen Sorgen, stattdessen stehe das Streben nach Selbstverwirklichung im Vordergrund.

Kritik am anti-aufklärerischen Denken der postkolonialen Theorie

In der zweiten Hälfte seines Buches analysiert der Philosoph die negativen Seiten des Phänomens: "Im hohen Ton über Moral" zu reden anstatt "soziale Konflikte zu lösen". Überzeugend kritisiert Hübl zudem das anti-aufklärerische Denken in der sogenannten postkolonialen Theorie, insbesondere deren Haltung gegen den Universalismus der Menschenrechte. Diese seien schließlich nicht "westlich", nur weil sie im Westen entwickelt wurden. Vielmehr handle es sich um universelle Rechte, stellt er klar.

Philipp Hübls höchst empfehlenswertes, gut geschriebenes Buch gehört zu den klügsten Neuerscheinungen dieses Jahres.

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