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Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS
Israelische Polizisten helfen am 7. Oktober 2023 einer Frau und ihrem Kind in Aschkelon, den Raketenangriffen der Hamas aus dem Gaza-Streifen zu entkommen.

Bücher zum Terror vom 7. Oktober 2023 : Stimmen aus dem Abgrund

Der Hamas-Terror vom 7. Oktober 2023 hat Israel in seinen Grundfesten erschüttert und ein neues blutiges Kapitel in Nahostkonflikt eröffnet.

15.10.2024
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6 Min

"Israel, 7. Oktober": Als Frauen Opfer einer "rituellen Hinrichtung" wurden

Es sind Bilder des nackten Horrors, mit denen Haim Utmazgin konfrontiert wird, als er am Abend des 7. Oktober 2023 gegen 21 Uhr das Gelände des Festivals "Supernova Sukkot Gathering" nahe des Kibbuz Re'im in der westlichen Negev-Wüste erreicht. Unter den unzähligen Toten auf dem Festival-Gelände stößt Utmazgin auf die Leichen auffällig vieler junger Frauen, die Opfer einer "geradezu rituellen Hinrichtung" geworden sind. Den Frauen waren ihre "Party-Outfits vom Leib gerissen worden, bevor man ihnen aus nächster Nähe in die Brust und in die Geschlechtsteile geschossen oder ihnen die Brüste und die Geschlechtsorgane aufgeschlitzt und verstümmelt hatte". Haim Utmazgin ist Gründer und Leiter der Spezialeinheiten von ZAKA, einer Hilfsorganisation, die Unfall- und Terroropfer identifizieren und Leichenteile zusammensucht, um eine angemessene Beerdigung zu ermöglichen.

Utmazgins Erlebnisse sind nur eine der Geschichten, die die israelische Journalistin Lee Yaron für ihr Buch "Israel. 7. Oktober" zusammengetragen hat. Es ist alles andere als eine leicht verdauliche Lektüre. Trotzdem sei sie mit Nachdruck empfohlen. Weil sie den Menschen ein Gesicht gibt und eine Stimme verleiht, die den Terror unmittelbar erfahren mussten. Diese Stimmen berichten von Trauer, Wut, Entsetzen und vom Jüdischsein. Und von einer Sehnsucht nach Frieden. 

Autorin wartet "voll Demut" auf die Bücher ihrer palästinensischen Kollegen

Man möchte es all jenen zur Pflichtlektüre auferlegen, die auf deutschen Straßen und anderswo "From the River to the Sea, Palestine Will Be Free", rufen. Dies gilt für alle der hier vorgestellten Bücher, die einen tiefen Eindruck vermitteln, wie vielschichtig der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ist - ebenso wie die damit verbundenen Gefühle. Yaron weiß, dass auch die "Unschuldigen von Gaza" Geschichten zu erzählen haben, die von "Leid und Tod" berichten. Sie warte deshalb "voll Demut" auf die Bücher ihrer palästinensischen Kollegen.


Lee Yaron:
Israel, 7. Oktober.
Protokoll eines Anschlags.
S. Fischer,
Frankfurt/M. 2024;
320 S., 26,00 €


"Israel im Krieg": Saul Friedländer befürchtet eine neue Welle des Antisemitismus

Diese ganz unterschiedlichen Gefühlslagen bringt auch Saul Friedländer zum Ausdruck: "Das sind wilde Tiere", schreibt er am 9. Oktober 2023 in sein "Tagebuch". Die Hamas-Terroristen "schlugen Gefangenen die Köpfe ab, sie vergewaltigten weibliche Geiseln und töteten sie dann, sie rissen schwangeren Frauen die Föten aus dem Leib und brachten sie dann um". Es sei fast unmöglich, "sich daran zu erinnern, dass die Hamas nicht die Palästinenser repräsentiert, sondern eine fanatische islamistische Fraktion". Und direkt anschließend bekennt er sich zur Zwei-Staaten-Lösung als einzigen Ausweg aus dem Konflikt. Doch er ahnt, diese Lösung ist in weite Ferne gerückt.

Nur wenige Tage vor dem 7. Oktober 2023 war Friedländers "Israelisches Tagebuch" erschienen, in dem er seiner tiefen Sorge über die innenpolitischen Spannungen und seiner Abneigung gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, seine rechte "Siedlerregierung" und die von ihm angestrebte Justizreform zum Ausdruck brachte. Mit "Israel im Krieg" hat er dieses Tagebuch nun fortgesetzt. Angesichts der Reaktion Israels auf den Terror befürchtet er bereits im November, dass das Land den "Kampf um die Weltmeinung" verloren hat und dass der Antisemitismus sich "in einer Vielzahl von Verkleidungen" erneut Bahn bricht. Und Friedländer stellt sich ebenso wie viele Menschen in Israel die Frage, warum die Sicherheitsbehörden die Katastrophe nicht haben kommen sehen.


Saul Friedländer:
Israel im Krieg.
Ein Tagebuch.
C.H Beck,
München 2024;
204 S., 24,00 €


"Feuer": Die unerhörte Warnung einer Unteroffizierin vor dem Terror-Szenario

Auf diese Frage gibt der ehemalige israelische Geheimdienstoffizier Ron Leshem, heute ein bekannter Roman- und Drehbuchautor, in seinem Buch "Feuer. Israel und der 7. Oktober" einige schockierende Antworten. Er berichtet von einer Unteroffizierin der "Unit 8200" - in ihr dienen Soldatinnen, die Material von Überwachungskameras und Abhöranlagen auswerten -, die bereits im Juli 2023 vor dem Szenario des 7. Oktobers exakt gewarnt hatte. Bei der Armeeführung stieß sie auf taube Ohren. Und ebenso wie Friedländer und auch Lee Yaron sieht Leshem einen Großteil der Verantwortung bei Netanjahu. Auf den deutschen Buchmarkt gelangen vor allem Bücher von Israelis und Juden, die dem liberalen Spektrum angehören.

Abgesehen von der Qualität seines analytischen Teils und seinen Anmerkungen zu den innenpolitischen Verhältnissen ist Leshems Buch aber auch deshalb so lesenswert und glaubwürdig, weil er selbst vom Terror der Hamas betroffen ist. Seine Tante und sein Onkel wurden ermordet, sein Cousin als Geisel verschleppt.


Ron Leshem:
Feuer.
Israel und der 7. Oktober.
Rowohlt Berlin,
Berlin 2024;
314 S., 25,00 €


"7. Oktober": "Der tödlichste Tag für die Juden seit dem Holocaust"

Die Stimme Saul Friedländers als Überlebender des Holocausts ist nicht zuletzt deswegen so wichtig, weil zwischen dem Terror des 7. Oktobers und dem Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten nicht nur in Israel eine Verbindungslinie hergestellt wurde. "Der tödlichste Tag für Juden seit dem Holocaust" wurde zu einem gängigen Begriff. Auch Netanjahu hat diese Verbindung sehr schnell hergestellt und die Hamas als Nazis tituliert. So sehr sich dieser Vergleich aufdrängt, unumstritten ist er nicht. Er werde von Politikern angeführt, "um sich von ihrer Schuld reinzuwaschen", befindet etwa der israelische Journalist Arad Nir in seinem Beitrag für den von Gisela Dachs herausgegebenen Sammelband "7. Oktober, Stimmen aus Israel". 

Die Hamas sei eine "brutale Terrororganisation", die historischen Nazis hingegen seien eine hochgerüstete Großmacht gewesen, mit einer "industriellen Maschinerie zur Vernichtung von Juden und anderen Menschengruppen, die ihren Rassegesetzen nicht entsprachen". Hart ins Gericht geht Nadir auch mit dem demonstrativen Anlegen des gelben Judensterns, etwa durch den israelischen UN-Botschafter Gilad Erdan und verweist darauf, dass dies in der Gedenkstätte Yad Vashem "als Banalisierung des Holocaust" verurteilt worden sei. Der Text von Nadir ist einer von insgesamt 20 Beiträgen von Wissenschaftlern, Publizisten, Journalisten und Schriftstellern, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem 7. Oktober und seinen Folgen auseinandersetzen.

Inoffizielle Verhandlungen zur Befreiung der Geiseln

Einen der vielleicht spannendsten Einblicke in die Ereignisse bieten die "Stimmen aus Israel" mit dem Beitrag über die Gespräche, die der Friedensaktivist Gershon Baskin, der vor 18 Jahren einen inoffiziellen diplomatischen Kanal zwischen Israel und der Hamas initiierte, und Ghazi Hamad, einem führenden Hamas-Vertreter. Die Gespräche beginnen direkt am 7. Oktober.

Baskin: Ganz Gaza wird teuer dafür bezahlen.
Hamad: Wir haben keine Angst.
Baskin: Das solltet ihr aber. Und ihr solltet Mitleid mit all den unschuldigen Opfern auf beiden Seiten haben.
Hamad: Ich habe Dir schon oft gesagt, dass die Besatzung die Quelle der ganzen Übel und Schandtaten ist.

Einen Tag später setzten Baskin und Hamad ihr Gespräch fort. Inzwischen hat die israelische Armee erste Luftangriffe auf Gaza geflogen.

Baskin: Ich habe gerade erfahren, dass sie dein Haus bombardiert haben. Ich hoffe, deine Familie ist okay. Sag es mir bitte. Wenn sie hinter dir her sind, den sie doch kennen, ist es ein Zeichen, dass sie die Hamas unbedingt zerstören wollen. Ich bin in Kontakt mit Gal Hirsch, dem neuen Spitzenmann von Netanjahu für die entführten Israelis.
Hamad: Was hast Du vor?

Baskin will einen Deal aushandeln. Zunächst, um die Freilassung der von der Hamas entführten Kinder und Frauen zu erreichen. Über Wochen verhandeln die beiden Männer, kommen sich mal näher, halten sich gegenseitig das Vorgehen der jeweils anderen Seite vor, verhandeln über Feuerpausen, die Freilassung von inhaftierten Hamas-Angehörigen und der Geiseln, leiten die Angebote und Gegenangebote an die entscheidenden Stellen im Hintergrund weiter. Die Dramatik der Ereignisse und die Emotionen spiegeln sich im Gesprächsverlauf.

Doch Ghazi Hamad bricht den Kontakt schließlich ab und gibt ein TV-Interview, in dem er den Terrorangriff vom 7. Oktober rechtfertigt und weitere ankündigt, "bis Israel vernichtet wäre", schreibt Baskin. "Nach über 17 Jahren", so notiert Baskin frustriert, "ist der Mann, den ich schon so lange kenne,, ein anderer geworden, einer, der seine Leute in Gaza im Stich gelassen hat und der jetzt der offizielle Hamas-Sprecher für diesen Krieg ist".


Gisela Dachs (Hg.):
7. Oktober.
Stimmen aus Israel.
Suhrkamp, Jüdischer Verlag,
Berlin 2024;
202 S., 23,00 €


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