Corona-Folgen : Verblüffende Parallelen
In seinem Buch "Die polarisierende Pandemie" beschreibt und analysiert Christoph Butterwegge die sozialen Folgen der Pandemie.
Gesperrte Kinderspielplätze waren nicht nur ein Symbol der Corona-Jahre, sondern verschärften zugleich die Auswirkungen der Pandemie.
Es wächst die Zahl der Publikationen, die das politische Handeln in der Corona-Krise bilanzieren. Nach über zwei Jahren Pandemie hat sich das Infektionsgeschehen zumindest vorübergehend beruhigt und die medizinische Infrastruktur ist trotz düsterer Prognosen nie an ihre Grenzen gestoßen. Fachleute streiten darüber, ob das an den staatlichen "Schutzmaßnahmen" lag oder zeitweise einfach zu viel Panik geschürt wurde.
Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge konzentriert sich in seiner Rückschau auf ökonomische und soziale Auswirkungen. Ungleichheit ist für ihn "das Kardinalproblem unserer Gesellschaft, aus dem Armut, Prekarität und privater Reichtum erwachsen". Daher müsse dies "auch im Mittelpunkt der Diskussion über die Pandemiefolgen stehen". Das Virus habe die deutsche Gesundheitspolitik vor die "härteste Bewährungsprobe seit Jahrzehnten" gestellt. Nach Meinung des Autors verschärften sich die "Interessengegensätze zwischen einzelnen Bevölkerungsschichten". Wie im Brennglas seien soziale Schieflagen sichtbarer, aber viel zu wenig sei dagegen unternommen worden.
Garantie bürgerlicher Grundrechte ist Voraussetzung für Zusammenhalt
Butterwegge steht der Linkspartei nahe, diese stellte ihn 2017 bei der Wahl des Bundespräsidenten als Gegenkandidat zu Frank-Walter Steinmeier auf. Der emeritierte Kölner Professor ist ein streitbarer Geist, er hat zahlreiche Bücher zu sozialpolitischen Fragen veröffentlicht, vor allem zur Kinderarmut. Dabei neigt er dazu, etwas schablonenhaft jedes Thema auf eine vom "Neoliberalismus" verursachte Spaltung der Gesellschaft zu reduzieren. In manchen Fällen mag das zutreffen, bei der Analyse der Pandemiebekämpfung aber greift es zu kurz.
Die massive Einschränkung der Freiheitsrechte, von zahlreichen Juristen angeprangert und in der Politik exponiert von Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Kubicki (FDP) kritisiert, ist nicht Butterwegges zentrales Anliegen. Im Gegenteil klingt durch, dass er sich, wie viele Linksliberale und Linke, von den ständigen Appellen an das "Große Wir", an die Mahnungen in einer Notsituation solidarisch zu handeln, "kapern" ließ - so nennt das überspitzt seine politikwissenschaftliche Kollegin Ulrike Guérot.
Die rigide Politik gegen die Ausbreitung des Virus ließ sich im bürgerlichen Eigenheim erheblich besser aushalten als in einer kleinen Wohnung ohne Balkon im Arbeiterviertel. Ausgangs- und Kontaktverbote, die Schließung von Schulen, das Absperren von Parks, Kinderspielplätzen oder Jugendtreffpunkten waren nicht nur ein Streitpunkt, weil sie zu mehr Ungleichheit führten. Sie sind auch aus staatsrechtlicher Perspektive mit guten Begründungen kritikwürdig. Neben sozialpolitischen Interventionen ist die Garantie bürgerlicher Grundrechte eine unabdingbare Voraussetzung für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Durch sie wird Chancengerechtigkeit erst ermöglicht. Das benennt den zentralen Widerspruch, das Kerndilemma des Buches: Eigentlich stimmt der Autor den behördlichen Verordnungen als notwendiges Mittel der Seuchenprävention weitgehend zu, zugleich aber moniert er deren Folgen.
Schulen sind mehr als Institutionen der Wissensvermittlung
An vielen Stellen benennt Butterwegge wichtige Aspekte, die in der von Naturwissenschaft und Medizin geprägten Debatte lange zu kurz kamen. Es dauerte Monate, bis die verheerenden Folgen der Eindämmungspolitik öffentlich diskutiert wurden: Verstörte Kinder und Jugendliche, überforderte Eltern; vereinsamte Heimbewohnerinnen ohne Besuch; ruinierte, durch verfehlte Hilfsprogramme im Stich gelassene Soloselbstständige und Kleinunternehmer; der Anstieg psychischer Erkrankungen bis hin zu mehr klinischen Depressionen und Suiziden; nicht zuletzt die gravierenden Einbrüche im Betreuungs- und Bildungssystem, die vor allem die ohnehin Benachteiligten trafen.
Die Corona-Krise, konstatiert Butterwegge, habe "bewusst gemacht, dass Schulen nicht bloß Institutionen der Wissensvermittlung, sondern wichtige Lebensräume, Begegnungsorte und Kontaktbörsen junger Menschen jenseits des Unterrichtsalltags sind". Er fordert eine verstärkte Kinder- und Jugendpolitik, um "vulnerablen Gruppen wie Minderjährigen sowie deren Familien trotz klammer öffentlicher Kassen und massiver Verteilungskämpfe mehr unterstützende und ausgleichende Angebote zu machen". Sonst habe die "in vielerlei Hinsicht zerrissene" nachwachsende Generation "ebenso wenig eine rosige Zukunft wie die auseinanderdriftende Gesellschaft, in der sie lebt".
Besonders lesenswert ist das erste Kapitel des Buches. Hier gibt der Verfasser einen historischen Überblick über "Entstehung, Entwicklung und Erscheinungsformen von Epidemien". Er zeigt verblüffende Parallelen auf: Schon bei der Pest, der Cholera und der Tuberkulose waren Isolation und Quarantäne, Kontaktbeschränkungen oder gar repressiv überwachte Verbote ein wichtiges Gegenmittel. Wohlhabende Schichten hatten stets ein geringeres Risiko, sich zu infizieren - und bessere Möglichkeiten, staatlich dekretierte Beschränkungen auszuhalten oder diese zu umgehen, etwa durch den Rückzug in ein Haus auf dem Land. Und bereits im 19. Jahrhundert, nach der revolutionären Entwicklung der Pockenschutzimpfung 1796, formierten sich die Gegner einer Impfpflicht; schon damals raunten radikalisierte Kritiker von einer "systematischen Vergiftung des Volkskörpers" oder witterten gar eine "jüdische Weltverschwörung".
Christoph Butterwegge:
Die polarisierende Pandemie.
Deutschland nach Corona.
Beltz Juventa,
Weinheim 2022;
250 S., 19,95 €