Humanitäre Kontingente : Vom Asyl zum Kontingent
Der niederländische Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans fordert mit "Die Asyl-Lotterie" eine radikal veränderte Flüchtlingspolitik.
Rettung von Flüchtlingen in Seenot vor der libyschen Küste durch die Organisation Ärzte ohne Grenzen im Januar 2018.
In kaum einer Woche kommt niemand ums Leben bei dem Versuch, die Europäische Union zu erreichen. Mehr als 25.000 Menschen starben in den zurückliegenden neun Jahren allein auf dem Mittelmeer, allein in den ersten zehn Wochen dieses Jahres waren es 383. In einer Realität, an die man sich - wenn man nicht betroffen ist - fast gewöhnt hat, wird über die Ursache erstaunlich selten gesprochen: In der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten gelten die Genfer Flüchtlingskonvention und ein Recht auf Asyl. In Anspruch nehmen kann man es indes nur an den nahezu ausschließlich illegal zu erreichenden Außengrenzen. Ohne Visum, und das wird meist nicht erteilt, bleiben Fähren und Flugzeuge verschlossen. Und wer es einmal in die EU geschafft hat, dem droht zwar häufig die Rückkehr. Faktisch dürfen die meisten jedoch bleiben.
Koopmanns spricht von "schwerwiegenden Sicherheitsrisiken und Integrationsproblemen"
Europas Asylsystem - ein "humanitärer und moralischer Skandal"? Mit so klaren Worten übt Ruud Koopmans in seinem aktuellen Buch Kritik an einer "Asyl-Lotterie", die nicht nur oft tödlich ist, sondern in der die Chancen höchst ungleich verteilt sind. Überzeugend legt der Leiter des Bereichs Integration beim Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) dar, wen die Asylpolitik alles ausschließt: Da sind erstens all jene, die aus ihren Ländern nicht wegkommen, aus dem Jemen zum Beispiel, wo Millionen Personen auf der Flucht vor einem blutigen Bürgerkrieg sind. Zweitens sind es vor allem junge Männer, die sich auf den Weg machen (können). So wie die Lage ist, trauen Familien, die oft mit vereinten Kräften viel Geld - darunter immense Schlepper- und Schleuserkosten - zusammenlegen, nur ihnen die Reise zu. "Viele ärmere Menschen, Frauen, Kinder, Alte und Kranke bleiben zurück", stellt Koopmans fest.
Nun hat Koopmans, der "Multikulti" in seiner niederländischen Heimat wie in Deutschland seit langem für gescheitert erklärt, kein Buch aus purem Altruismus geschrieben. Vier von sieben Kapiteln widmen sich den Auswirkungen der in seinen Augen fehlgeleiteten Migration auf Deutschland - und damit, wie er schreibt, "schwerwiegenden Sicherheitsrisiken und Integrationsproblemen". Das mit Abstand längste trägt den Titel "Opfer und Täter" und stellt so akribisch wie in ausgeschmückten Tat-Erzählungen Kriminalitätsstatistiken in Bezug zu Herkunft und Religion dar. Wie bereits für sein Vorgänger-Buch "Das verfallene Haus des Islam" läuft Koopmans auch diesmal Gefahr, zum Vorzeige-Wissenschaftler im Milieu der Rechtspopulisten und Neuen Rechten zu werden.
Radikales Gedenkexperiment oder realistische Utopie?
Kern des Buchs ist allerdings eine Neuordnung der Migration. Der Vorschlag, mal als "radikales Gedankenexperiment", mal als "realistische Utopie" bezeichnet: Etwa die gleiche Anzahl Menschen, die bisher als schutzberechtigt gelten, werden über humanitäre Kontingente aufgenommen; ausgewählt vom UNHCR oder in EU-eigenen Verfahren, unter Berücksichtigung der Lage in den Ländern. Vor allem einem Argument Koopmans kann man sich nur schwer verschließen: Gäbe es ein solches System, hätten Deutschland und die EU womöglich die massenhafte Flucht aus Syrien nicht schlicht abgewartet, sondern antizipiert, und bereits ab 2012 Menschen aufgenommen.
Den aufnehmenden Gesellschaften und Kommunen hätte es das wesentlich leichter gemacht. Von den 325.000 Kontingentflüchtlingen, welche die EU im Jahr aufnehmen würde, wären in Koopmans Modell in jedem der zurückliegenden Jahre 125.000 Menschen aus Syrien gekommen. Zusätzlich wäre für weitere 200.000 Menschen aus Ländern wie Myanmar, dem Ost-Kongo oder eben dem Jemen Platz. Deutschland würde jeden zweiten aufnehmen, und zugleich einen weiteren regulären Migrationsweg eröffnen: Im Gegenzug zur Rücknahme abgelehnter Asylbewerber soll in einer Art selbstregulierendem Tauschgeschäft Arbeitsmigration ermöglicht werden.
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Richtig ist allerdings auch: Die Aushandlung von Kontingenten ist immer Spiegelbild der jeweils aktuellen politischen Lage; ob es bei der vergleichsweise großen Zahl bleiben würde, ist also ungewiss. Und die Asylverfahren, also das Recht jedes Einzelnen, seinen Fall prüfen lassen, werden in dem Modell in andere Länder ausgelagert; eine Idee, die seit Bundesinnenminister Otto Schily (SPD), der nach dem 11. September 2001 das erste Zuwanderungsgesetz mit Verschärfungen im Asylrecht verknüpfte, immer wieder ins Gespräch kommt. Damals wie bei Koopmans ist unter anderem Nordafrika im Blick, namentlich Tunesien. Hier zeigt sich allerdings bereits die große Schwäche des Modells: Nur wenige Tage nach Erscheinen des Buchs machte Tunesiens Ministerpräsident Kais Saied "Horden illegaler Einwanderer" für Gewalt und Verbrechen verantwortlich, löste eine Serie rassistischer Übergriffe und eine weitere Massenflucht aus. Das Parlament ist abgeschafft, Tunesien ist auf dem Weg in eine Autokratie. Wie sollte die EU - soeben von UN-Experten dafür gerügt, mit ihrer Unterstützung der libyschen Küstenwache Beihilfe zu Straftaten zu leisten - in so einer Lage sicherstellen, dass Asylverfahren rechtsstaatlich sauber laufen? An dieser Stelle dürfte die Entscheidung zwischen einem "radikalen Gedankenexperiment" und einer "realistischen Utopie" bereits gefallen sein.
Ruud Koopmans:
Die Asyl-Lotterie.
Eine Bilanz der Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukraine-Krieg.
C.H.Beck,
München 2023;
296 Seiten, 26,00 €