Gesellschaftstheorie : Warum in der Spätmoderne die Verluste eskalieren
Der Soziologe Andreas Reckwitz geht in seinem neuen Buch der Frage nach, warum moderne Gesellschaften einst Verluste ignorierten - und warum sie nun eskalieren.
Es ist ein Wahlspruch für Verlierer - mit dem man aber das Weiße Haus gewinnen kann: "Make America Great Again" lautet das Motto von Donald Trump. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass die einstige Größe Amerikas verlorengegangen ist. Zu viele Jobs im Ausland, zu viele Illegale im Land, ein Wokeness-Exzess an den Universitäten und der "Deep State", der das alles geschehen lässt, wenn nicht gar bewusst steuert - fertig ist die populistisch-verschwörungstheoretische Erzählung eines Mannes, der das in den nächsten vier Jahren wieder ändern will. Mal wieder.
Für den Soziologen Andreas Reckwitz sind Trump und Co. klassische Beispiele für das "Verlustunternehmertum" in der Spätmoderne. Das sind Kräfte, die Verlusterfahrungen der vermeintlichen Verlierer bündeln und zum Gegenschlag auf die vermeintlichen Gewinner übergehen wollen. "Wir wollen euch scheitern sehen! Wir wollen euch weinen sehen" - das verlange die "populistische Rache" und das bedeute auch, eben jene Institutionen der liberalen Demokratie zu untergraben und zu zerstören, die die anderen so schätzten, wie der 54-Jährige wortgewaltig in seinem neuesten Bestseller ausführt. Sein Interesse ist es dabei, Populismus als "verlustbezogene Politik" einzubetten in einer größeren Theorie darüber, wie Moderne und Spätmoderne mit Verlusten umgehen.
Reckwitz: Moderne Gesellschaften zeigen überwiegend Ignoranz gegenüber Verlusten
Für die spätmoderne Gegenwart diagnostiziert Reckwitz nämlich eine "Verlusteskalation". Das gilt nicht nur für den Populismus, sondern beispielsweise auch für Wachstumskritik und die Klimabewegung, die Debatte um die Wiedervereinigung und die ehemalige DDR oder für Fragen rund um den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit. Die eskalierenden Verluste sind allerdings erklärungsbedürftig, weil laut Reckwitz moderne Gesellschaften lange überwiegend Ignoranz gegenüber Verlusten gezeigt hatten und sie unsichtbar machten. Es regierte nämlich der "Fortschrittsimperativ", der Institutionen, Gesellschaft und jeden Einzelnen prägte. Wo es immer besser werden sollte, ja musste, da war wenig Raum (abseits der Kulturkritik), um Verluste, die es natürlich weiterhin gegeben hatte, anzuerkennen und zu bearbeiten.
Andreas Reckwitz:
Verlust.
Ein Grundproblem der Moderne.
Suhrkamp,
Berlin 2024;
463 Seiten, 32,00 Euro
Was Verluste soziologisch gesehen sind, wie (spät-)moderne Gesellschaften sie verhandeln, wie sich das seit den 1970ern dramatisch geändert hat und was nun getan werden könnte, um die Moderne zu retten, das schreibt Reckwitz auf mehr als 400 anspruchsvollen, aber gut lesbaren und interessanten Seiten nieder - und macht sich nach der "Gesellschaft der Singularitäten" einmal mehr zum Stichwortgeber des Gegenwartsdiskurses in Politik und Feuilleton.