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1848/49 : Wiege unserer Demokratie

Der Heidelberger Historiker Frank Engehausen hat einen "Werkstattbesuch" in der Paulskirche über die Anfänge deutscher Parlamentsgeschichte geschaffen.

15.05.2023
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4 Min
Foto: picture-alliance/akg-images

Sitzung der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Gemälde von Ferdinand Brütt aus dem Jahr 1906.

Die Nationalversammlung, die am 18. Mai 1848, vor 175 Jahren, in der Frankfurter Paulskirche zusammenkam, war die erste gesamtdeutsche Volksvertretung, frei gewählt von "selbständigen" Männern nach allgemeinem und gleichem Mehrheitswahlrecht. Zwei Monate nach den Märzaufständen, die den herrschenden Fürsten Zugeständnisse abtrotzten, sollte sie Hoffnungen auf Freiheitsrechte, Teilhabe und nationale Einheit Wirklichkeit werden lassen. Sie installierte eine "provisorische Zentralgewalt", beschloss die "Grundrechte des Deutschen Volkes" und die "Verfassung des Deutschen Reiches" für eine konstitutionelle Monarchie mit Preußens König als (Erb-)Kaiser und einem demokratisch zu wählendem Parlament.

Gemischte Bilanz

Gemessen an den Erwartungen vor 175 Jahren, muss sich die Paulskirche Scheitern auf der ganzen Linie attestieren lassen. Die Restauration gewann wieder Oberhand; Preußens Friedrich Wilhelm IV. lehnte die Kaiserkrone als "Reif aus Dreck und Letten" ab, der Traum vom Nationalstaat platzte. Die Nationalversammlung löste sich auf; Militär trieb in Stuttgart ihren Rest auseinander, warf Aufständische nieder. Verfolgung, Prozesse, Hinrichtungen oder Exil besorgten den Rest. Die "Frankfurter Reichsverfassung" mit dem darin enthaltenen Grundrechtekatalog trat nie in Kraft.

Gemessen am Stand nach 175 Jahren, darf sich die Paulskirche mit John F. Kennedy als "Wiege der deutschen Demokratie" betrachten. Für den Nationalstaat sollte Bismarck 1871 mit der Reichsgründung von oben sorgen, doch die Saat von 1848/49 wirkte weiter und überdauerte sein Kaiserreich und die nationalsozialistische Gewaltherrschaft samt zweier Weltkriege: In der Paulskirchenverfassung verankerte Prinzipien wie Demokratie und Gewaltenteilung prägten 1919 die Konstitution von Weimar und bestimmen seit 1949 das Grundgesetz, und im parlamentarischen Alltag finden sich noch heute nicht nur Spuren der Paulskirchenarbeit - nicht ohne Grund hat der Heidelberger Historiker Frank Engehausen sein zum Jubiläumsjahr erschienenes Werk über die Frankfurter Nationalversammlung "Werkstatt der Demokratie" betitelt.

Fokus auf das parlamentarische Innenleben

Dabei konzentriert sich der Professor für Neuere Geschichte mit einem Arbeitsschwerpunkt auf 1848/49 ganz auf das Frankfurter Parlament. Andere Zentralereignisse wie der Konflikt um Schleswig-Holstein werden "nur in ihren Rückwirkungen auf die Arbeit in der Paulskirche skizziert", wie es in der Einleitung heißt, oder lediglich am Rande gestreift wie die diversen Aufstände und ihre Niederschlagung. Das erschwert Unkundigeren bisweilen die Übersicht, gibt dem Einblick in das parlamentarische Innenleben aber mehr Tiefenschärfe - Teleskop statt Weitwinkel.

Diesem Innenleben widmet Engehausen gut die Hälfte des 319 Seiten umfassenden Buches (ohne Anhang, der auch den damals beschlossenen Grundrechtekatalog enthält). Hier behandelt er nicht nur die engere Vorgeschichte der Versammlung, sondern auch eine Vielzahl oft eher marginal behandelter Fragen, etwa von der Wahl Frankfurts und der Paulskirche als Tagungsort bis hin zur Sitzanordnung der Abgeordneten und zahlreichen Zuschauern oder dem Wechsel in ein Ausweichquartier während der erforderlichen Heizungsinstallation. Der Wahl und Zusammensetzung der 587 Parlamentarier - 809 mit Nachrückern und Nachgewählten - sowie den beginnenden Fraktionsbildungen und ihrem Kräfteverhältnis ist ebenso ein Kapitel gewidmet wie den "Abläufen der Parlamentsarbeit" einschließlich der Fülle gewichtiger Petitionen und sonstiger Papiere oder der Bedeutung der Stenographen. Weitere Kapitel gelten dem "Parlament und seinen Regierungen" der "Zentralgewalt" sowie dem vielschichtigen Verhältnis von Nationalversammlung und Öffentlichkeit.

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Der zweite Teil des Werkes richtet den Blick auf die in der "Werkstatt der Demokratie" getroffenen Entscheidungen. Dem selbst gesetzten Anspruch, dabei die "Errungenschaften der Paulskirchenverfassung wie das demokratische Männerwahlrecht, die Gewaltenteilung als Mittel zur Herstellung von Rechtsstaatlichkeit oder der Grundrechtskatalog" zu würdigen und zugleich nur mäßig bewältigte Herausforderungen wie den Umgang mit nationalen Minderheiten kritisch zu beleuchten, wird Engehausen nicht weniger gerecht als beim gelungenen Bemühen im ersten Abschnitt, die Entwicklung parlamentarischer Praxis der Paulskirche lebendig nachzuzeichnen.

Abgeordneten-Porträts und zeitgenössische Karikaturen

Das liegt nicht zuletzt an den zahl- und umfangreichen zeitgenössischen Zitaten, die er oft den Stenographischen Plenarprotokollen entnommen hat und so dem Leser einen authentisch anmutenden Eindruck von damaligen Debatten und ihren Protagonisten vermittelt. Der mag bei der Lektüre manch lehrhaftem Déjà-vu begegnen; das reicht von der satirischen Kunstfigur des "Herrn Piepmeyer", einer Art Vorfahr des fiktiven Bundestagsabgeordneten Jakob-Maria Mierscheid, über die sich entwickelnde Fraktionsdisziplin oder die Einführung einer Bannmeile als Folge einer versuchten Stürmung des Hohen Hauses durch Demonstranten bis hin zur parlamentarisch so wichtigen Kunst des Kompromisses. Zahlreiche Abbildungen, vor allem Abgeordneten-Porträts und zeitgenössische Karikaturen, lassen das damalige Geschehen ebenfalls näher rücken.

Unterm Strich legt Engehausens detail- wie kenntnisreiches Buch nicht nur Wurzeln und auch Wesenszüge unseres Parlamentarismus frei, sondern vermittelt auch etwas von der Aktualität seiner Anfänge. Das ist beileibe kein geringer Beitrag zum Jubiläum einer Institution, deren - nicht nur traditionsstiftende - Bedeutung für die deutsche Demokratiegeschichte oft eher zu wenig gewürdigt wird.

Frank Engehausen:
Werkstatt der Demokratie.
Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49.
Campus Verlag,
Frankfurt/M. 2023;
355 Seiten, 34,00 €