Demokratie : Zwischen Resilienz und Erosion
In seinem neuen Buch "Im Zwielicht" beschreibt der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel einen verschärften Systemwettbewerb zwischen Demokratien und Autokratien.
An Politikwissenschaftlern mangelt es Deutschland nicht. Zu den gefragten unter ihnen gehört der Demokratieforscher Wolfgang Merkel. Als Student habe er noch "mit radikal-marxistischen Ideen die Welt verbessern" wollen, erzählte der renommierte Forscher dem Berliner "Tagesspiegel". Da hatte er seine Passion längst zum Beruf gemacht: Merkel lehrte bis zu seiner Emeritierung 2020 an der Humboldt-Universität und verfasste mehrere Standardwerke. Als Leiter der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin beobachtete er zudem, wie sich in den letzten 20 Jahren die Krisenlage zuspitzte: steigende Flüchtlingszahlen, das Aufkommen rechtspopulistischer Bewegungen, Klimawandel, Corona, Inflation und zuletzt Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Bürgerräte als innovative Ergänzung der repräsentativen Demokratie
In seinem neuesten Buch reflektiert Merkel in 15 Aufsätzen den theoretischen und empirischen Stand der Demokratieforschung. So weist er darauf hin, dass wir einerseits zwar in Krisenzeiten leben, andererseits aber auch an Innovationen teilhaben, die die Resilienz der Demokratien steigern können. Zu diesen Innovationen zählt Merkel zum Beispiel die Bürgerräte. Diese seien geeignet, die Zivilgesellschaft als "innovative Ergänzung der repräsentativen Demokratie" zu stärken. Bürgerräte könnten den Bürgern "ein neues Bewusstsein der Selbstwirksamkeit und der Identifizierung mit dem politischen Gemeinwesen vermitteln". In fast allen liberalen Demokratien beobachtet der Wissenschaftler eine Belebung von unterschiedlichen Formen der Partizipation, darunter Forderungen nach einer direkten Beteiligung. Die Zeiten der Politikverdrossenheit seien vorbei.
Neben solch positiven Entwicklungen sieht Merkel jedoch auch Grund zur Sorge. "Zwar ist die Resilienz der Demokratien in Deutschland und Westeuropa heute ungleich größer als vor hundert Jahren", neu sei jedoch, dass die Herausforderungen im 21. Jahrhundert längst die Grenzen der Nationalstaaten überschritten hätten. Zählte man im Jahr 2000 rund 120 Länder zu den sogenannten "elektoralen Demokratien", mehrten sich bis 2020 weltweit die Zeichen für eine Erosion des demokratischen Modells. Insbesondere nahm die Zahl der Menschen ab, die in demokratischen Regierungssystemen leben. Vor allem die Transformationsstaaten kehrten zurück zu "defekten Demokratien" oder zu Autokratien.
Schulterschluss der Diktaturen China und Russland
Zu Recht betont Merkel, dass mit dem wirtschaftlichen Aufstieg einer "effizienten Diktatur" wie der Volksrepublik China die Systemkonkurrenz zwischen Autokratien und Demokratien für jedermann sichtbar wurde. Der "Schulterschluss" zwischen den Diktaturen China und Russland könne nicht nur zu einem verschärften Systemwettbewerb führen, sondern zu einer neuen bipolaren Ost-West-Spaltung. Vor diesem Hintergrund bewertet der Politikwissenschaftler den "Angriffskrieg des autokratischen Putin-Regimes" gegen die Ukraine auch als den "Präventivschlag eines unproduktiven rohstoffbassierten Oligarchenkapitalismus" gegen die Demokratisierung der Ukraine.
Wolfgang Merkel:
Im Zwielicht.
Zerbrechlichkeit und Resilienz der Demokratie
im 21. Jahrhundert.
Campus,
Frankfurt/M. 2023;
381 Seiten, 39,00 €