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Arbeitsmarkt im Wandel der Zeit : Auf dem Weg zum Einwanderungsland?

Seit 150 Jahren gibt es mal mehr, mal weniger erfolgreiche Vorhaben, ausländische Fachkräfte anzuwerben. Ein Überblick über die Phasen deutscher Arbeitsmarktpolitik.

28.03.2022
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3 Min

Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz sollten mehr qualifizierte Beschäftigte nach Deutschland geholt werden. Das Gesetz ist vor fast genau zwei Jahren in Kraft getreten und hat laut Experten die Erwartungen nicht ansatzweise erfüllt. Damit kann sich auch der jüngste Versuch, Einwanderung in den Arbeitsmarkt zu steuern, in eine Reihe von Vorhaben stellen, die seit 150 Jahren unternommen wurden, um ausländische Fachkräfte anzuwerben - mal mehr, mal weniger erfolgreich.

Ambivalente Entwicklung der Bundesrepublik

"Die Geschichte der deutschen Ausländerpolitik ist eng verflochten mit der Geschichte der Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung. Die Begriffe 'Saisonarbeiter', 'Gastarbeiter', 'Flüchtlinge' und 'Fachkräfte' markieren dabei nicht nur wichtige zeithistorische Etappen, sondern verdeutlichen auch die ambivalente Entwicklung Deutschlands vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland", schrieb Sven Rahner in einem bereits 2011 erschienenen Beitrag. Rahner ist heute Leiter der Geschäftsstelle "Nationale Weiterbildungsstrategie" im Bundesministerium für Arbeit und Soziales und kam damals zu dem Schluss, dass Deutschland, ähnlich wie in den 1950er Jahren, als sich demografischen Veränderungen abzeichneten, vor neuen arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen stehe.

Foto: picture-alliance/dpa/Ducklau

Griechische Arbeiter an der Bergbauleitstelle in Essen im Jahr 1960.

Rahner skizziert mehrere Phasen deutscher Arbeitsmarktpolitik: Beginnend im späten 19. Jahrhundert, als die Landwirtschaft im preußischen Osten und die Industrie im Westen Arbeitskräfte benötigten. Dem folgte ein Mangel an Arbeitskräften in der Rüstungsindustrie, im Bergbau sowie in der Landwirtschaft, der im Ersten Weltkrieg zu einer zentralen Frage der deutschen Kriegswirtschaftspolitik wurde. Unternehmen und Behörden drängten darauf, neben Kriegsgefangenen auch polnische Arbeitskräfte zur Arbeit zu zwingen. Während des Nationalsozialismus und der Zeit des Zweiten Weltkriegs setzten Regierung und Behörden eine gewaltsame Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte durch, ab 1939 galt eine sogenannte Ausländerverordnung, die ein Ausreisen der Zwangsarbeiter unter Verbot stellte.

1955: Anwerbeabkommen mit Italien

Bereits Anfang der 1950er Jahre zeichnete sich in Teilen der Bundesrepublik Deutschland Vollbeschäftigung ab. Ursache war das rasante Wirtschaftswachstum, die Landflucht und ein durch den Krieg verursachter Arbeitskräftemangel. Die damalige Bundesregierung reagierte 1955 mit einem Anwerbeabkommen mit Italien.

In den 1960er Jahren sorgten der Arbeitsmarkteintritt der geburtenschwachen Kriegsjahrgänge, die Senkung der Arbeitszeit und der Rückgang des Flüchtlingsstroms aus der DDR nach dem Mauerbau 1961 für Arbeitskräftemangel. Im selben Jahr wurde deshalb mit der Türkei ein Anwerbeabkommen unterzeichnet. Von 1961 bis 1973 stieg die Zahl der ausländischen Erwerbsbevölkerung von 280.000 auf etwa 2,6 Millionen Menschen. Dieser Trend setzte sich in den 1980er Jahren fort, "die Gastarbeiterfrage wurde weitgehend sich selbst überlassen und von Phänomenen armutsmotivierter Migrationsströme überlagert", schreibt Rahner. Die Innenpolitik sei gegen Ende der 1980er Jahre geprägt von hitzigen zuwanderungspolitischen Debatten gewesen, wobei die damalige Bundesregierung an ihrer Grundauffassung festhielt, dass der Aufenthalt der Ausländer zeitlich begrenzt und Deutschland kein Einwanderungsland sei.


„Die Einführung der Green Card im Jahr 2000 gilt als Zäsur.“
Herbert Brücker, Arbeitsmarktforscher

Auch in der DDR herrschte Arbeitskräftemangel, die Regierung warb vor allem Menschen aus Vietnam und Mosambik an. "Allerdings hat die SED-Regierung auf Integrationsmaßnahmen weitgehend verzichtet und diese Arbeitnehmer stark isoliert", sagt Herbert Brücker, Ökonom am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).

Zusammenrücken der Aspekte Zuwanderung und Arbeitsmarktpolitik

Die 1990er Jahre waren vor allem geprägt von der Globalisierung und der Transformation des ostdeutschen Arbeitsmarktes. Die Einführung der Greencard im Jahr 2000 zur Deckung des IT-Fachkräftebedarfs und der erleichterte Zugang von Spezialisten außerhalb der Europäischen Union gilt als Zäsur in der Debatte, weil Zuwanderung wieder als Gewinn diskutiert worden sei, so Brücker.

In den Folgejahren rückten die Aspekte Zuwanderung und Arbeitsmarktpolitik immer stärker zusammen. So trat 2005 das Zuwanderungsgesetz in Kraft, das Einwanderung und arbeitsmarktpolitische Interessen berücksichtigt. Mit dem Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz von 2009 sollte durch die Absenkung der Mindesteinkommensgrenze der Zuzug hochqualifizierter Fachkräfte aus dem Ausland erleichtert werden. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz von 2020 ist der bislang letzte Versuch, Zuwanderung in den Arbeitsmarkt aktiv zu steuern. Aus dem Auswärtigen Amt heißt es, dass weltweit rund 139.300 Visa nach dem Gesetz vergeben wurden. Das IAB geht davon aus, dass Deutschland jährlich auf eine Netto-Einwanderung von rund 400.000 Personen angewiesen sei. Die Ampel will mehr Zuwanderung, im Koalitionsvertrag heißt es, man wolle "einen Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik gestalten, der einem modernen Einwanderungsland gerecht wird".