Piwik Webtracking Image

Dauerbaustelle Personalsuche : Gefragt wie nie

Viele Unternehmen suchen dringend qualifizierte Mitarbeiter und kommen den Bewerbern mitunter weit entgegen – nicht nur beim Gehalt.

22.08.2022
True 2024-03-11T09:59:30.3600Z
5 Min
Foto: picture-alliance/Andreas Franke

Start der "Boomtown Cottobus"-Kampagne: Ein Bündnis will Fachkräfte und Arbeitgeber im Strukturwandel zusammenzubringen.

An Fachkräften fehlt es gerade überall. Aktuell steht der Dienstleistungssektor im Fokus, aber auch große Industrieunternehmen und deren Zulieferer suchen händeringend nach Spezialisten. Im Vergleich zu früher habe sich die Arbeitsmarktlage insbesondere für gut qualifizierte Fachkräfte deutlich verbessert, sagt Alexander Kubis vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Dagegen berichteten Betriebe immer häufiger von Schwierigkeiten bei der Personalsuche. Angesichts veränderter Verhandlungspositionen seien attraktive Arbeitsplätze "das A und O, um zu überzeugen", betont Kubis. Nötig sei auch eine qualifizierte Zuwanderung. Zudem müssten die Kommunen darauf achten, nicht zum Hemmnis für ihre Wirtschaft zu werden.

Qualifizierte Bewerber sind sich ihres Marktwertes bewusst

Das bestätigt Stefan Hardege, Arbeitsmarktexperte des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK). Von den Unternehmen mit Stellenbesetzungsproblemen planten mehr als die Hälfte weitere Verbesserungen bei der Fachkräftegewinnung. Dazu zählten neben einem guten Gehalt auch Möglichkeiten für flexibles Arbeiten und eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf am jeweiligen Standort. Auch ein attraktives Umfeld zum Leben und Arbeiten beeinflusse häufig die Entscheidung von Arbeitnehmern für oder gegen ein Unternehmen.

Jörg Friedrich, beim Maschinen- und Anlagenbauverband VDMA für Bildung zuständig, ergänzt: "Beim aktuellen Buhlen der Unternehmen um knappe Fachkräfte sind sich qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber ihres Marktwertes sehr bewusst." Dies drücke sich in Gehaltsforderungen aus, aber auch in der Erwartung diverser Zusatzleistungen. Ganz oben auf der Liste stünden ein attraktives Arbeitsumfeld und eine gute Infrastruktur am Wohnort.

Große Lücke: Offene Stellen für akademisch qualifizierte Experten stiegen am stärksten

Nach dem im Mai veröffentlichten jüngsten Fachkräftereport des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung (KOFA) nahm die Zahl der offenen Stellen über alle Anforderungsniveaus hinweg im ersten Quartal 2022 um 5,3 Prozent zu. Die offenen Stellen für akademisch qualifizierte Experten stiegen mit 9,2 Prozent am stärksten, gefolgt von Spezialisten mit Fortbildungs- oder Bachelorabschluss (plus 8,0 Prozent). Die Fachkräftelücke hat laut KOFA im März 2022 einen neuen Höchstwert erreicht. Saisonbereinigt hätten gut 558.000 Fachkräfte gefehlt. Damit sei die Lücke im ersten Quartal nochmal um gut 88.000 offene Stellen, für die es bundesweit keine passend qualifizierten Arbeitssuchenden gebe, gestiegen.


„Auf einer interaktiven Karte des KOFA lässt sich ablesen, welche Regionen und Berufsgruppen besonders von Fachkräfteengpässen betroffen sind. “

Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW Köln) für das KOFA kommt zu dem Schluss, dass es für Unternehmen immer wichtiger wird, sich als attraktive Arbeitgeber zu positionieren. Neben guten Arbeitsbedingungen seien Weiterbildungs- und Karriereperspektiven entscheidende Faktoren. Auf einer interaktiven Karte des KOFA lässt sich ablesen, welche Regionen und Berufsgruppen besonders von Fachkräfteengpässen betroffen sind. Bei qualifizierten Fachkräften mit Ausbildung, Fortbildung oder Studium sind dies vor allem Bayern und Baden-Württemberg, aber auch die ostdeutschen Länder Brandenburg, Sachsen und Thüringen.

Dresdener Rathauschef: Mehr Initiativen gegen den Fachkräftemangel nötig

Stellvertretend für die Bürgermeister ostdeutscher Städte forderte der Dresdener Rathauschef Dirk Hilbert (FDP) auf einer Konferenz des Deutschen Städtetages mehr Initiativen gegen den Fachkräftemangel. Das Bestreben von Kommunen, attraktive Arbeitsbedingungen zu schaffen und so die Wirtschaftskraft zu stärken, dürfe nicht durch eine geringere Förderung einzelner Regionen durch Bund und Länder konterkariert werden.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte den Osten Deutschlands beim Ostdeutschen Wirtschaftsforum Mitte Juni sogar als eine der attraktivsten Wirtschaftsregionen Europas bezeichnet.

Beispiel Brandenburg: Die Wirtschaftsförderung Brandenburg (WFBB) führt die Attraktivität des Standortes auf ihr Modell "Wirtschaftsförderung und Fachkräfteservices aus einer Hand" zurück, das es seit 2014 gibt. Mit den jüngsten Neuansiedlungen, darunter die Tesla-Fabrik in Grünheide und das Lithium-Unternehmen Rocktech in Guben, sei der Industriestandort nochmals erheblich gestärkt worden.

Lausitz: "Zukunftsteam" der Arbeitsagentur Cottbus unterstützt Strukturwandel

WFBB-Geschäftsführer Steffen Kammradt verweist auf den neuen "International Talent Desk", mit dem insbesondere kleinere und mittlere Unternehmen dabei unterstützt werden, Fachkräfte auch aus dem Ausland zu akquirieren. Zudem kooperiere die WFBB mit Kommunen und biete Hilfe bei der Verbesserung der Infrastruktur an, denn die sogenannten weichen Standortfaktoren wie Wohnraum würden immer wichtiger.

Ein "Servicepaket Fachkräfte" solle Unternehmen bei der Gewinnung neuer Mitarbeiter und bei der Qualifizierung des Personals, aber auch bei der Einführung familienfreundlicher Angebote unterstützen. Die brandenburgische Landesregierung hat einer Sprecherin zufolge einen strategischen Rahmen geschaffen, mit dem die betrieblichen Anstrengungen zur Fach- und Arbeitskräftesicherung flankiert werden.

Im südbrandenburgischen Teil der Lausitz-Region unterstützt seit Anfang des Jahres ein "Zukunftsteam" der Arbeitsagentur Cottbus den Strukturwandel weg von der Braunkohle. Das Team aus der Praxis kann die Aussagen der Wirtschaft bestätigen: Die Erwartungen der Bewerber und Bewerberinnen für Jobs in der aufstrebenden Region reichten von individuellen Arbeitszeitregelungen, finanziellen Zuschüssen und der Übernahme von Qualifizierungskosten über familienfreundliche Weiterbildungszeiten, kostenlose Kitabetreuung und betriebliches Gesundheitsmanagement bis hin zu kostenloser Verpflegung.

Cottbus startet Imagekampagne

Die Stadt Cottbus hat zur Fachkräftegewinnung eine Kampagne mit dem Slogan "Boomtown Cottbus" gestartet. Diese Kampagne soll sich in die am 1. Juli begonnene bundesweite Fachkräfte- und Imagekampagne "Aufbruch Lausitz" einfügen und zusammen mit dieser das Bild der Lausitz und der Stadt Cottbus positiv transportieren.

In Cottbus baut die Deutsche Bahn seit Mai ein Instandhaltungswerk für ICE-Züge. Dort sollen bis 2024 rund 500 Arbeitsplätze entstehen, bis 2026 sollen es 1.200 sein. Im Mai unterzeichneten die Bahn und die Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg (BTU) eine Kooperationsvereinbarung: Studenten mit dualer Ausbildung (Theorie und Praxis) können künftig die Theorie an der BTU lernen und die Praxis im zwei Kilometer entfernten Bahnwerk absolvieren. Ein Teil der neuen Stellen soll so besetzt werden. Die Bahn biete hochattraktive Beschäftigungsbedingungen, versichert ein Konzernsprecher.

Auch in Bayern ist die Fachkräftesicherung ein großes Thema. Bei der Ingolstädter Fördergesellschaft IFG wurde Anfang dieses Jahres die Servicestelle "Bildung - Beruf - Transformation" ins Leben gerufen, die ein Beratungsangebot zur Fachkräftesicherung, -bindung und -entwicklung aufbaut und sich dabei mit Zulieferern des Autobauers Audi aus Ingolstadt abstimmt.

Entscheidend: Familienfreundliche Angebote und bezahlbarer Wohnraum

Maximilian Mayer von der IFG verweist auf eine Strukturanalyse, wonach bei der Fachkräfteanwerbung familienfreundliche Angebote und bezahlbarer Wohnraum zählen. Laut der Studie muss in der für Ingolstadt zentralen Berufsgruppe der technischen Forschungs-, Entwicklungs-, Konstruktions- und Produktionssteuerungsberufe mit Stellenbesetzungsproblemen gerechnet werden. Mit einer neuen "Stadtidentität" wolle Ingolstadt Studenten der Technischen Hochschule zum Bleiben bewegen, sagt Mayer.

Mehr zum Thema

Collage aus drei Bildern: links: Schriftzug "Tesla" und Mitarbeiter; Mitte: Wind- und Photovoltaik-Park dazwischen Bäume; rechts: Aufnahme aus der Luft vom BASF-Werk in Ludwigshafen.
Standort Deutschland: Wie die deutsche Wirtschaft den Anschluss halten will
Hohe Kosten, zu wenig Fachkräfte: Der Standort Deutschland hat mit einigen Problemen zu kämpfen. Doch es gibt auch positive Entwicklungen, besonders im Osten.
Die Giga-Factory von Tesla in Grünheide, Brandenburg
Unternehmen auf der Suche: Die Vorteile des Standorts Ostdeutschland
Anderswo ist Arbeit billiger und die Märkte sind technisch überlegen. Was macht den Osten trotzdem für Investitionen attraktiv?
Das neu errichteten  Gebäude der Technischen und Bau-Messe. - um 1922; aufgenommen aus der Luft.
Entwicklung der Wirtschaft: Wo einst die Kraftzentren der Industrialisierung lagen
Große Wirtschaftszentren gab es vor 1945 vor allem im Osten Deutschlands. Insbesondere Sachsen und Berlin galten als Antreiber der Industrialisierung.

Audi setzt derweil bei der Fachkräftegewinnung angesichts der Umstellung auf elektrische Antriebe auf eine Personaltransformation von innen, wie es eine Sprecherin formuliert. Audi werbe mit einem innovativen und flexiblen Arbeitsumfeld und einem attraktiven Gehalt. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die Gesundheit der Mitarbeiter hätten einen hohen Stellenwert. Nach Ansicht von Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger muss die Fachkräftesicherung auch politisch Priorität haben. Davon hänge die Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft ab.