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Bernd Rützel im Interview : "Jeder kann etwas"

1,2 Millionen junge Menschen ohne Ausbildung: Bernd Rützel, Vorsitzender des Ausschusses für Arbeit und Soziales, fordert mehr Investitionen in die Berufsausbildung.

28.03.2022
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5 Min

Herr Rützel, nach neuesten Daten des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung (Kofa) hat sich die Fachkräftelücke im Verlauf des vergangenen Jahres verdoppelt. Das Problem ist seit Jahren bekannt, doch scheinbar tut sich zu wenig, wenn man die Zahlen richtig deutet.

Bernd Rützel: Das stimmt, aber ich denke, es wird sich viel ändern. Zum einen wird die Ampel-Koalition die Fachkräfteeinwanderung deutlich erleichtern, denn wir brauchen Zuwanderung. Zweitens ist es verrückt, gut qualifizierte und integrierte Menschen wegzuschicken, weil sie kein Bleiberecht haben. Dort brauchen wir einen Spurwechsel. Menschen, die nicht straffällig geworden sind, die sich zur demokratischen Grundordnung bekennen, müssen bei uns eine Perspektive bekommen können.

Foto: Henning Schacht

Bernd Rützel ist Vorsitzender des Ausschusses für Arbeit und Soziales. Der Sozialdemokrat aus Bayern gehört dem Bundestag seit 2013 an, seitdem ist er auch Mitglied des Ausschuss für Arbeit und Soziales.

Die Fachkräfteeinwanderung ist bereits mit verschiedenen Gesetzen neu justiert worden. Woran liegt es, dass die Bundesagentur für Arbeit 2021 nur 3.200 Fachkräfte aus dem Ausland dabei unterstützt konnte, auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen?

Bernd Rützel: Das hat mehrere Gründe. Die Corona-Pandemie ist einer davon, aber natürlich ein kurzfristiger. Auf grundlegender Ebene brauchen wir einen kulturellen Sinneswandel. Wenn Menschen befürchten, in Deutschland rassistische Anfeindungen zu erleben, werden sie nicht kommen. Da ist mehr Toleranz nötig. Zum anderen ist auch die deutsche Sprache ein Nachteil gegenüber englischsprachigen Ländern, da darf man sich nichts vormachen.

Der Chef der Bundesagentur für Arbeit spricht von 400.000 Fachkräften aus dem Ausland, die pro Jahr nötig wären. Sind solche Werte utopisch?

Bernd Rützel: Das ist schon eine Hausnummer. Um da heranzukommen, müssen wir unter anderem die Hürden bei der Anerkennung von ausländischen Bildungs- und Berufsabschlüssen weiter abbauen. Das Verfahren ist immer noch zu kompliziert und abschreckend. Ein Punktesystem, mit dem Kanada erfolgreich seine Einwanderung regelt, könnte auch für uns ein Vorbild sein. Wir haben zwar bereits gute Verfahren, wie zum Beispiel die Westbalkan-Regelung. Aber wir müssen sie weiterentwickeln und vereinfachen.

Zuwanderung erzeugt einen erheblichen Braindrain in vielen Herkunftsländern. Beschleicht Sie da manchmal ein schlechtes Gewissen?

Bernd Rützel: Sie sprechen etwas Wichtiges an. Das belastet mich in der Tat, weil wir damit auch auf Kosten anderer leben. Wir hoffen, dass die besten Leute zu uns kommen, aber diese Länder bräuchten auch ihre Besten. Natürlich freue ich mich, wenn der syrische Arzt bei uns im Krankenhaus arbeitet, aber er würde natürlich in Syrien auch gebraucht. Zweifellos sorgen diese Prozesse eher dafür, dass die Ungleichheit größer wird.

Nur ins Ausland zu schauen, wird das Problem nicht lösen. Die Zahl der Schulabbrecher ist erschreckend hoch. Braucht es nicht einen Aktionsplan, der schon bei der Schulausbildung ansetzt?

Bernd Rützel: Dafür haben wir die Berufsagenturen eingerichtet. Sich erst am letzten Schultag zu kümmern, ist zu spät. Es gibt viele Kinder, die zu Hause nicht die nötige Unterstützung bekommen, die aber vielleicht sehr schlau sind und die einfach viel früher intensiver an die Hand genommen werden müssten. Ich sehe es an meiner Biografie: Ich war auch jemand, der nicht extrem schulisch motiviert war. Das kam erst später, in der neunten Klasse und danach in Lehre und Studium. Außerdem müssen die Schulen über Praktika stärker berufsnahe Angebote machen. Das Signal muss sein: Wir brauchen jeden und jeder kann etwas!


„Das Signal muss sein: Wir brauchen jeden und jeder kann etwas!“
Bernd Rützel, SPD

Immer mehr Jugendliche wollen studieren. Inwiefern kann die Politik hier die Weichen anders stellen, um die duale Berufsausbildung wieder attraktiver zu machen?

Bernd Rützel: Das ist eine Aufgabe für Arbeitgeber und Politik gleichermaßen. Um die Berufsausbildung zu stärken, werden wir einige Unterschiede zwischen akademischer und beruflicher Ausbildung beenden: So soll das Bafög für Aus- und Weiterbildung erweitert werden. Einen Beruf zu haben, ist der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit. 1,2 Millionen Menschen im Alter von 20 bis 30 Jahren haben keine Ausbildung. Das kann nicht sein.

Jüngst hat die DIHK die von der Koalition geplante Ausbildungsgarantie für alle Jugendlichen als falsches Signal kritisiert, weil viele tausend Betriebe keine Bewerbungen mehr erhalten würden. Verstehen Sie die Kritik?

Bernd Rützel: Überhaupt nicht. Denn das Wichtigste ist, dass man Menschen eine Berufsausbildung anbieten muss. Und wenn sie diese in einer Firma nicht finden, dann muss das überbetrieblich geschehen. Priorität hat erst einmal, die jungen Menschen von der Straße wegzubekommen in eine Berufsausbildung.

Im Koalitionsvertrag wird auch die stärkere Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren als Mittel zur Fachkräftesicherung genannt. Die Statistiken zeigen, dass es hier in den vergangenen Jahren bereits einen erheblichen Anstieg gab.

Bernd Rützel: Ja. In punkto Entgeltgleichheit und Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind wir noch längst nicht am Ziel. Wenn wir da vorankommen, würde sich das sicher auf die Erwerbstätigkeit von Frauen weiter auswirken, denn immer noch sind sie es, für die der Spagat zwischen Privat- und Berufsleben besonders anstrengend ist. Viele arbeiten auch weniger Stunden pro Woche, als sie gern arbeiten würden, da gibt es auch Luft nach oben. Und für Rentner haben wir zwar die Zuverdienstgrenzen erhöht. Aber so flexibel wie Länder in Skandinavien, wo jeder selbst über seinen Renteneintritt entscheiden kann, sind wir leider noch nicht.

Wir befinden wir uns in einem gigantischen Strukturwandel, Stichwort: ökologische Transformation. Was halten Sie von der Idee eines Bildungsgrundeinkommens für Beschäftigte, die sich beruflich neu orientieren wollen?

Bernd Rützel: Wir brauchen so etwas auf jeden Fall. Die Österreicher machen das gut, dort gibt es eine Bildungsteilzeit. Immer mehr Menschen wollen für eine Weiterqualifizierung nicht aufhören zu arbeiten, sie müssen also ihre Arbeitszeit reduzieren, doch dann reicht das Geld nicht. Deswegen brauchen wir dafür eine zusätzliche Förderung.

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Aber eine solche Regelung ist zeitnah nötig, denn der Druck ist schon jetzt groß.

Bernd Rützel: Wir wollen ein Lebenschancen-Bafög auf den Weg bringen, wo Beschäftigte Bildungsguthaben für eine Qualifizierung ansparen können. Eine Bildungsteilzeit ist eine Möglichkeit. Wir arbeiten an einem Qualifizierungsgeld, damit auch Menschen in der Grundsicherung finanziell besser unterstützt werden, wenn sie eine Weiterbildung beginnen. Wir sind dabei, die BA als Arbeits- und Weiterbildungsagentur umzubauen. Der Vermittlungsvorrang im Bürgergeld soll fallen zugunsten von Weiterbildung. Also, wir haben uns viel vorgenommen, weil wir keine andere Wahl haben, wenn wir unseren Lebensstandard halten wollen.

Noch eine Frage zum Thema Minijobs: Die Koalition möchte die Verdienstgrenze auf 520 Euro anheben. Warum? Experten kritisieren Minijobs länger schon als berufliche Sackgasse für viele.

Bernd Rützel: Minijobs für Studentinnen und Rentner sind ja unproblematisch. Schwierig wird es, wenn Menschen in Minijobs statt sozialversicherungspflichtiger Arbeit beschäftigt sind. Die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden steigt durch eine höhere Verdienstgrenze nicht. Wir erleichtern den Übergang in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und sorgen dafür, dass die Arbeitszeit bei Minijobs digital erfasst werden muss.