Fachkräfteeinwanderung : "Keine Leute, keine Leute..."
Deutschland muss den Rückstand auf klassische Einwanderungsländer aufholen. Doch die Politik tut sich trotz lauter Hilferufe von Wirtschaftsverbänden schwer.
Am Flughafen Berlin-Brandenburg während der Osterferien: Der Flug aus Rom setzt pünktlich um 22.10 Uhr auf. Der Flugkapitän holt sich seinen verdienten Applaus ab, die Passagiere verlassen das Flugzeug und machen sich auf den Weg Richtung Gepäckbänder. Dort wartet die böse Überraschung. Für 23.15 Uhr sei mit dem Gepäck aus der Rom-Maschine zu rechnen. Schlussendlich dauert es sogar 90 Minuten, bis die durchnässten Reisetaschen ankommen. Sie hatten offenbar im Regen auf dem Rollfeld rumstanden. Auf Nachfrage zuckt ein BER-Mitarbeiter mit den Schultern. Bei den Gepäckträgern fehle es an Personal. "Keine Leute, keine Leute...", sagt er.
Es gibt wohl kaum jemanden, der nicht von solchen Fällen zu erzählen weiß, in denen sich kein Installateur findet, der den tropfenden Wasserhahn repariert, wo selbst in Tourismusregionen Restaurants nur sehr begrenzt öffnen, weil es an Küchen- und Servicepersonal fehlt, und in Kindergärten und Schulhorten Kinder früher abgeholt werden müssen, weil keine Betreuungskräfte da sind.
Versorgungsengpässe könnten sich potenzieren
Richtig problematisch, weil lebensbedrohlich ist der Mangel im Pflege- und Gesundheitsbereich, wenn Behandlungen unterbrochen oder Operationen verschoben werden müssen, weil es an medizinischem Personal fehlt. Versorgungsengpässe in der Bevölkerung drohen, wenn Supermärkte nicht mehr ausreichend beliefert werden, weil für die dazu benötigten Lkw die Fahrer fehlen. Auch der ohnehin ins Stocken geratenen Energiewende droht der endgültige Knockout, wenn es an Elektrikern, Klimatechnikern und IT-Experten mangelt.
Das Ganze potenziert sich in der Zukunft: Wenn die Babyboomer-Generation in die Rente eintritt, geht wohl bald kaum noch etwas. Nach jüngsten Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit stehen im Jahr 2035 durch den demografischen Wandel bedingt mehr als sieben Millionen Arbeitskräfte weniger zur Verfügung. Lediglich von einem Fachkräftemangel zu sprechen, erscheint fast schon verniedlichend: In Deutschland gibt es vielmehr einen Arbeitskräftemangel, der immer mehr Branchen zu erreichen scheint.
Neu oder gar überraschend ist diese Entwicklung ganz sicher nicht. Doch die Politik tut sich schwer, gegenzusteuern. Und das, obwohl von Wirtschaftsverbänden schon lange Hilferufe kommen. "Das Fehlen von Fachkräften belastet nicht nur die Betriebe, sondern gefährdet auch den Erfolg bei wichtigen Zukunftsaufgaben wie der Energiewende, der Digitalisierung und dem Infrastrukturausbau", sagte Achim Dercks, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), unlängst bei der Vorstellung des DIHK-Fachkräftereports 2022. Mehr als die Hälfte von fast 22.000 dazu befragten Unternehmen gaben an, nicht alle offenen Stellen besetzen zu können - ein Rekordwert. "Wir gehen davon aus, dass in Deutschland rund zwei Millionen Arbeitsplätze vakant bleiben", sagte Dercks. "Das entspricht einem entgangenen Wertschöpfungspotenzial von fast 100 Milliarden Euro."
Mehr Zuspruch für klassische Einwanderungsländer
Aus Sicht der Bundesregierung müssen zwar zur Bedarfsdeckung in erster Linie inländische und innereuropäische Potenziale gehoben werden. Doch das reicht nicht. Nachdem schon Ende 2022 ein Eckpunktepapier zur Erleichterung der Fachkräftezuwanderung vorgelegt wurde, hat die Bundesregierung nun den Gesetzentwurf "zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung" in den Bundestag eingebracht. Denn auch SPD, Grüne und FDP wissen: Deutschland ist derzeit nicht gerade die Top-Adresse für internationale Fachkräfte. Klassische Einwanderungsländer wie die USA oder Kanada finden weit mehr Zuspruch.
Dabei hat Deutschland durchaus Erfahrungen mit der Fachkräftegewinnung aus dem Ausland. Als Mitte der 1950er Jahre die Wirtschaft in Westdeutschland boomte, wurden "Gastarbeiter" angeworben. Verträge mit Italien (1955), Spanien und Griechenland (1960), der Türkei (1961), Portugal (1964) und Jugoslawien (1968) regeln ihre Anwerbung und Vermittlung. Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhardt (CDU) hatte sich seinerzeit, auch gegen Widerstände in der eigenen Partei, dafür stark gemacht. Mit der Wirtschaftskrise 1973 kam der Anwerbestopp. Der Begriff Gastarbeiter machte aber deutlich, dass es ein Deal auf Zeit sein sollte. Das in den Abkommen verankerte sogenannte Rotationsprinzip sah vor, dass sie nach Ablauf einer Aufenthaltsfrist in ihre Heimatländer zurückkehren und andere an ihre Stelle treten sollten.
Regierung will modernes Einwanderungsrecht. Union kritisiert Bürokratiezuwachs.
Linken-Fraktionsvize Susanne Ferschl über die Notwendigkeit der Fachkräfteeinwanderung und mögliche Gefahren für den Arbeitsmarkt.
Das Thema blieb indes auch nach 1973 auf der Agenda. So veranlasste etwa eine Mangellage Anfang der 2000er Jahre die rot-grüne Bundesregierung zur Auflage einer deutschen Greencard. Sie sollte an die dringend gesuchten Fachkräfte der IT-Branche vergeben werden, die entweder einen entsprechenden Hochschulabschluss vorweisen konnten oder mindestens 50.000 Euro verdienten. Die Regelung lief aus, als 2004 das neue Zuwanderungsgesetz in Kraft trat. Knapp 18.000 Menschen nutzten die Greencard in vier Jahren.
Die Bemühungen um mehr Fachkräfte aus Drittstaaten hielten auch in der Folge an. Zuletzt beschloss die große Koalition von Union und SPD 2019 das "Fachkräfteeinwanderungsgesetz" (19/8285), dessen Ziel es war, die Fachkräftesicherung "durch eine gezielte und gesteuerte Zuwanderung von Fachkräften aus Drittstaaten zu flankieren". Dabei entfiel etwa die Beschränkung auf besonders vom Fachkräftemangel betroffene "Engpassberufe"; auch auf die Vorrangprüfung: Ob nicht auch Deutsche oder EU-Bürger für die Stelle in Frage kommen, wurde bei Fachkräften im Grundsatz verzichtet.
Chancenkarte und Punktesystem geplant
Der aktuelle Gesetzentwurf der Bundesregierung setzt nun auf das Eckpunktepapier aus dem letzten Jahr auf. Vorgesehen ist unter anderem, dass ausländische Fachkräfte künftig jede qualifizierte Beschäftigung ausüben können. Als von dem Gesetz erfasste Fachkraft gilt ein Zuwanderer auch, wenn er einen in seinem Herkunftsland anerkannten zweijährigen Berufsabschluss und mindestens zwei Jahre Berufserfahrung hat - sofern er einen deutschen Arbeitsvertrag hat. Wer keinen Arbeitsvertrag hat, soll über ein Punktesystem eine "Chancenkarte" erhalten können, mit der er einreisen und sich einen Job in Deutschland suchen darf.
Die ersten Reaktionen fallen verhalten aus. Das IAB attestiert dem Entwurf, eine Reihe sinnvoller, aber kleinerer Maßnahmen zu enthalten wie etwa die Senkung der Gehaltsschwellen für die Blaue Karte EU und die Erweiterung der Qualifikationsdefinition des Zielberufs. "Allerdings werden diese Maßnahmen die Einwanderung von qualifizierten Arbeitskräften nur sehr begrenzt erweitern, weil an der wesentlichen Hürde, der Gleichwertigkeitsprüfung beruflicher Abschlüsse zu einem deutschen Referenzberuf, festgehalten wird", heißt es in einer Stellungnahme.
DIHK-Vize Dercks schätzt die Unternehmen in Deutschland als durchaus attraktiv für gut ausgebildete internationale Fachkräfte ein. "Allerdings sind unsere Zuwanderungsverfahren oft zu kompliziert, zu bürokratisch und dauern zu lange. Wenn wir es mit dem neuen Deutschland-Tempo ernst meinen, dann muss sich das auch hier zeigen." Nur dann könnten die Erleichterungen bei den Spielregeln für die Zuwanderung in der Praxis tatsächlich greifen, sagt Dercks. Das gelte allem voran bei der Visumvergabe.
Für den Deutschen Mittelstand-Bund (DMB) ist die Neuregelung ein längst überfälliger Schritt. Aber: "Die besten Gesetze helfen nicht, wenn sie an der Realität in der Verwaltung scheitern", sagt DMB-Vertreter Steffen Kawohl. Bislang würden sich Unternehmen und ausländische Fachkräfte vor allen Dingen mit langen Verzögerungen bei der Visa-Vergabe oder der Anerkennung von Berufsabschlüssen herumschlagen. "Diese Verwaltungsprozesse zu vereinfachen, muss das Ziel sein", sagt er.
Der Präsident des Zentralverbandes Deutschen Handwerks (ZDH), Jörg Dittrich, sieht das ähnlich. Damit die neuen Regelungen in den Betrieben greifen, müsse das Zuwanderungsrecht entbürokratisiert werden. Doch stattdessen machten die vielen neuen Regelungen das Aufenthaltsrecht sogar noch komplizierter, beklagt der ZDH-Präsident.