Baustoffe der Zukunft : Hoffnung aus dem Wald
Die Erforschung nachwachsender und rohstoffschonender Materialien läuft weltweit auf Hochtouren. Wohnen wir bald in Pilzhäusern?
Pilzsammler machen besser einen Bogen um den Zunderschwamm. Der Baumpilz, der hierzulande überall an toten Buchen und anderen Laubbäumen wächst, ist zwar nicht giftig, aber er schmeckt bitter und hat eine zähe, holzartige Konsistenz - eine echte Enttäuschung für Feinschmecker. Für die Pilztechnologin Vera Meyer ist der Zunderschwamm dennoch eine Offenbarung.
Die Professorin für angewandte und molekulare Mikrobiologie an der Technischen Universität zu Berlin forscht an neuen Baumaterialien auf der Basis von Pilzen und hofft, damit bald klimaschädliche Baustoffe (wie Beton und Zement) und Dämmstoffe auf Erdölbasis wie Stypropor ersetzen zu können. 70 Baumpilzarten hat Meyer dafür bereits getestet, der Zunderschwamm hat alle Konkurrenten übertroffen. "Der Fruchtkörper ist wasserabweisend und so stabil, dass ein Mensch darauf stehen kann", sagt die Mikrobiologin. Seit sie das selbst vor einigen Jahren ausprobiert hat, lässt sie der Gedanke nicht los, aus dem Baumpilz eines Tages Häuser zu bauen. Häuser, die sich den verändernden Lebensansprüchen jederzeit anpassen können und die trotzdem die Ressourcen schonen. "Ich stelle mir Wände vor, die man an einfach einziehen und kleingeschreddert auf den Kompost werfen kann, wenn man sie nicht mehr braucht, etwa wenn die Kinder ausgezogen sind oder mehr Platz für einen Rollstuhl her muss."
Wohnen im Einklang mit der Natur
Die Idee des flexiblen Wohnens im Einklang mit der Natur hat Meyer im Sommer erstmals im Kleinen verwirklicht: Mit ihrem Wissenschafts- und Kunst-Kollektiv MY-CO-X präsentierte sie im Metzlerpark in Frankfurt am Main eine bewohnbare Skulptur aus Pilz-Stroh-Verbundstoffen, alles komplett biologisch abbaubar. "Wir wollen zusammen mit Künstlern eine Diskussion anzustoßen über die Frage: Können wir uns vorstellen, in Pilzen zu leben?", erklärt Meyer. Die Besucher seien fasziniert gewesen, auch von den dämmenden Eigenschaften des Materials. "Draußen war es heiß und im Inneren angenehm kühl. Als ich Ende September im Pilzhaus übernachtet habe, war es bei zehn Grad Außentemperatur drinnen schön warm."
Die Technologie dahinter ist überraschend simpel: Reststoffe aus der Agrar- und Forstwirtschaft wie Stroh oder Sägespäne dienen dem Pilz als Nährboden. Er wächst in die tote Biomasse hinein und bildet aus dem losen Substrat einen festen Verbund - "wie ein Klebstoff oder Bindemittel", erklärt Meyer. Als Nebeneffekt speichern Pilze im Verbund CO2.
Erste Werkstoffe hat Meyers Team testweise schon hergestellt, alternative Dämmstoffe und Rigipsplatten sollen folgen. Allerdings steht die Forschung hier noch am Anfang, bis zur Marktreife wird es noch dauern. Nachfragen aus der Baubranche bekommt Meyer dennoch regelmäßig. Das Interesse an nachhaltigen Baustoffen wächst, auch weil herkömmliche Rohstoffe wie Sand immer knapper werden und damit die Baukosten steigen. Neue Klimaschutzgesetze zwingen die Branche außerdem dazu, Alternativen zu herkömmlichen Materialien wie Beton und Zement zu suchen.
Sprung in die Praxis
Weltweit forschen Wissenschaftler daher mit Hochdruck an neuen, nachwachsenden Baustoffen oder auch an den Einsatzmöglichkeiten von traditionellen, gut recyclebaren Materialien wie Lehm oder Holz.
Eine Innovation, die den Sprung in die Praxis teilweise schon geschafft hat, ist Carbonbeton, ein Verbundwerkstoff aus Kohlenstofffasern und Beton. Laut Experten der Technischen Universität Dresden wird bei seiner Produktion bis zu 80 Prozent Material gespart, die CO2-Emissionen sinken um bis zu 50 Prozent. Dabei ist das Material fester, langlebiger und viermal leichter als Stahlbeton, die Tragfähigkeit ist sogar fünf- bis sechsmal höher. "Wenn ich dünner bauen will und Zement einsparen muss, komme ich an Carbonbeton nicht vorbei", sagt Frank Schladitz, Geschäftsführer des weltweit größten Carbonbeton-Bauforschungsprojekts C³ - Carbon Concrete Composite in Dresden. Weil nur wenig Material gebraucht werde, um zum Beispiel die Tragfähigkeit von Brücken um ein Vielfaches zu erhöhen, könne bestehende Bausubstanz erhalten und Abriss und Neubau vermieden werden. "Nachhaltiger geht es nicht", urteilt Schladitz. Bis Carbonbeton zum Regelbaustoff wird, würden aber noch fünf bis zehn Jahre vergehen. Derzeit entwickelt das Konsortium mit Fördermitteln des Bundes und 160 Partnern - zwei Drittel Unternehmen, ein Drittel Forschungseinrichtungen und Verbände - Materialien und Produktionsverfahren weiter und treibt die Normung und Zulassung des Materials voran.
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Die Baubranche ist für einen großen Teil der Treibhausgasemissionen verantwortlich. Ein Umdenken setzt nur langsam ein und wird durch bürokratische Hürden erschwert.
Schon jetzt hat C³ kleinere 130 Praxisprojekte umgesetzt, darunter Brücken- und Dachsanierungen. Auf dem Campus der TU Dresden entsteht derzeit das weltweit erste Carbonbeton-Haus, das im zweiten Quartal 2022 eröffnet werden soll. Auf das Projekt ist Schladitz sichtlich stolz: "Man soll alles sehen, vom einfachen Wandelement bis hin zur geschwungenen Decke", schwärmt er. "Und obwohl die Wände so dünn sind, wird man die Hauptstraße davor nicht hören."
So weit ist Pilzforscherin Meyer noch nicht. Mit ihrem multidiszipliären Forscherteam steht sie erst am Anfang einer langen Testreihe, in deren Verlauf sie bis 2030 ein komplettes Haus aus Pilzen realisieren will. "Auf wissenschaftlicher Seite tun wir alles", sagt Meyer. Was fehle, seien ausreichende finanzielle Mittel für die Forschung. Dennoch ist sie zuversichtlich, dass die Pilz-Baustoffe in naher Zukunft in der Breite eingesetzt werden können: "Viele haben sich von der Idee begeistern lassen. Die Baubranche entdeckt das Thema erst."