Nuklearenergie im Ausland : Mit oder ohne Atom?
Atomstrom hat einen langsam aber stetig sinkenden Anteil am Strommix: Neubauprojekte der Kernenergie verzögern sich teils erheblich, Reaktoren werden immer älter.
In der Klimadebatte wird derzeit wieder die Atomkraft ins Spiel gebracht. Die EU-Kommission um Präsidentin Ursula von der Leyen könnte ihr im Rahmen der EU-Taxonomie ein grünes Label verpassen - und damit Investitionen in den Energieträger als nachhaltig klassifizieren. Auch in Deutschland fremdelt mancher mit dem beschlossenen Ausstieg aus der Nuklearenergie und verweist auf internationale Entwicklungen. Schon ist von einer Renaissance der Kernenergie der Rede.
Im Südwesten Englands entsteht ein neuer Reaktor für das Kernkraftwerk Hinkley Point. Die Kosten schießen inzwischen in die Höhe.
Atom hat stetig sinkenden Anteil am Strommix
Mycle Schneider, Herausgeber des jährlich erscheinenden World Nuklear Industrie Status Report (WNISR), sieht das entschieden anders. Dem Report zufolge befinden sich global 415 Reaktoren in 33 Staaten am Netz, 26 stehen längerfristig still. Seit den späten 1980er Jahren ändert sich diese Anzahl nur wenig - mit Ausnahme des Einbruchs nach der Katastrophe von Fukushima. 2020 gingen fünf Meiler in Betrieb, darunter die ersten Reaktoren in Belarus und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Sechs wurden stillgelegt.
Atomstrom hat einen langsam aber stetig sinkenden Anteil am Strommix - aktuell liegt er bei zehn Prozent, 1996 waren es noch 17,5 Prozent. Die Anzahl der Neubauprojekte - weltweit momentan 53 - geht seit 2013 tendenziell zurück. Wann und wie viele dieser Projekte fertig gestellt werden, ist ungewiss. 31 der Projekte liegen hinter ihrem Zeitplan, zehn davon werden seit über einer Dekade gebaut. Einen Atomreaktor zu bauen, dauert in China, Pakistan und Südkorea um die sechs Jahre, im Rest der Welt 19 Jahre im Schnitt (ohne Planungsphase) und kostet in der Regel einige Milliarden Euro.
Schaut man auf die reinen Stromerzeugungskosten, ist Atomstrom gegenüber Solar- und Windstrom seit acht Jahren nicht mehr konkurrenzfähig. Selbst bestehende, bereits abgeschriebene Meiler werden zunehmend unrentabel. Oft unterschlagenen werden die externen Kosten der Atomkraft. Das Umweltbundesamt beziffert sie auf mehr als 69 Cent pro Kilowattstunde und gibt damit nur den unteren Wert an, da die Kosten zur Entsorgung des Jahrmillionen strahlenden Mülls schwer kalkulierbar sind, genauso wie die Folgekosten eines gravierenden Unfalls. Da das Durchschnittsalter der weltweiten Reaktorflotte steigt, warnen Kritiker vor einer höheren Wahrscheinlichkeit von Unfällen mit katastrophalen Folgen.
Festhalten an Atomkraft einiger Länder hat diverse Gründe
Vielen Experten zufolge trägt Atomkraft nicht zum Klimaschutz bei. Sie ist im Gegenteil hinderlich für den notwendigen Umbau des Energiesystems und bindet Unsummen an Geld, das andernfalls in Energieeffizienz, Speicher sowie Wind- und Solaranlagen fließen würde.
Das gilt besonders für die unterschiedlichen Reaktorkonzepte der "Small Modular Reactors" (SMR). Die Entwickler dieser Mini-Reaktoren erhoffen sich von einer Art Baukastensystem eine Kosten- und Zeitersparnis bei der Erstellung. Doch alle im Bau befindlichen SMR-Prototypen überschritten laut einer vom Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung beauftragten Studie die ursprünglich angesetzten Planungs- und Entwicklungszeiten bereits um ein Vielfaches, genauso wie die Kosten, die teilweise über denen von herkömmlichen Reaktoren liegen.
Warum einige Länder dennoch an der Atomkraft festhalten, hat unterschiedliche Gründe. Eine wichtige Rolle spielt der militärische Aspekt. Die vier größten Atommächte - USA, China, Frankreich und Russland - sind zugleich die größten Kernenergie-Produzenten. Gemeinsam generieren sie 66 Prozent des weltweit verfügbaren Atomstroms.
USA besitzen mit 93 die größte Reaktorflotte
Mit 93 laufenden, im Schnitt über 40-jährigen Atommeilern besitzen die USA die mit Abstand größte Reaktorflotte. Sie liefert knapp 20 Prozent des Stroms. Nur zwei Blöcke befinden sich in Bau (seit 1987 und 1989) - trotz Kostenexplosion und Verzögerungen. Ein AKW-Projekt wurde 2017 nach fünf Jahren Bauzeit aufgegeben, während der Investor Westinghouse Electric in den Konkurs rutschte. Der Geschäftsführer des Projektes wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er die enormen finanziellen Probleme während des Baus vertuscht hatte, ein Skandal, der die Stromkunden Milliarden von Dollar kostete.
Ob Präsident Joe Biden weiterhin auf die Mini-Reaktoren setzt, deren Entwicklung zehn Jahre lang staatlich gefördert wurde, bleibt abzuwarten. Kommunale Investoren haben sich größtenteils von SMR-Projekten abgewandt. In den vergangenen zehn Jahren gingen zwölf teilweise umstrittene Reaktoren vom Netz.
Der aus wirtschaftlichen Gründen unausweichlich scheinende Rückgang der Atomkraft könnte sich jedoch durch hohe Subventionen verlangsamen. Mit dem Klimaschutz-Argument fand die Atomlobby Wege, öffentliche Gelder zu akquirieren. Aufgrund neuer Gesetze mancher Bundesstaaten werden bereits 13 Altmeiler subventioniert. Auch im US-Kongress wird aktuell ein Gesetz zur finanziellen Unterstützung unrentabler Reaktoren diskutiert.
Russland: Staatskonzern Rosatom weltweit größter Atomkraftexporteur
Elf der 39 Reaktoren, die gut 21 Prozent des Stroms liefern, sind seit über 40 Jahren in Betrieb, Laufzeitverlängerungen sind geplant. Neubauprojekte gehen eher schleppend voran, derzeit befinden sich zwei Blöcke in Bau, denn das dafür bemessene knappe Budget ist von schwankenden Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft abhängig. Mit dem zuletzt realisierten Projekt, dem Prototyp eines SMR-Kraftwerks auf dem Schiff Lomonossow (2020), wollte Russland der Welt die Vorzüge dieses Designs demonstrieren, was aber wegen explodierender Kosten, Bauverzögerungen und der schlechten Leistung der beiden Meiler misslang. Dennoch investiert der Staatskonzern Rosatom als weltweit größter Atomkraftexporteur im Iran, in der Türkei, in Ägypten sowie in Bangladesch und Indien. In China, Finnland, Bulgarien, Tschechien, Ungarn und der Slowakei sind russische Reaktoren seit Längerem in Betrieb, in Belarus seit Kurzem.
China ist zweitgrößter Atomstromproduzent
40 der 52 betriebenen Reaktoren des AKW-Newcomers gingen innerhalb der vergangenen zehn Jahre ans Netz. Inzwischen ist China zweitgrößter Atomstromproduzent. Trotz der 19 Neubauprojekte ist die Regierung laut WNISR-Bericht unsicher geworden, ob sie weiterhin in dem Maße auf eine Technologie setzen soll, die gegenüber den erneuerbaren Energien immer weiter in den Hintergrund rückt. Im Corona-Jahr 2020 wuchs die Windkraft um gigantische 71,3 Gigawatt, Photovoltaik um 56,5 Gigawatt - ein weltweiter Rekord. Die Erneuerbaren decken 27 Prozent des Strombedarfs in China, Kernkraft dagegen nur knapp fünf Prozent. Der staatliche Atomkonzern CGN hat jegliche Exportambitionen für die kommenden Jahre aufgegeben.
Frankreich: Anteil der Atomkraft am Strommix sank 2020 auf 67 Prozent
Die 56 französischen Meiler standen durchschnittlich ein Drittel des Jahres 2020 still, wodurch der Anteil der Atomkraft am Strommix auf 67 Prozent sank. Präsident Emmanuel Macron kündigte vor kurzem an, sechs neue Großreaktoren der dritten Generation (EPR) sowie mehrere SMR bauen zu wollen.
Allerdings verschwieg er, dass der Spielraum fehlt, um auch nur einen dieser Meiler zu finanzieren. Die seit 2005 und 2007 bestehenden Baustellen der EPR-Projekte in Flamanville (Frankreich) und Olkiluoto (Finnland) hatten sich für den staatseigenen Kraftwerks-Konstrukteur AREVA zum finanziellen Fiasko entwickelt, in dessen Folge er Konkurs anmeldete. Nach einer Konzernumbildung steht nun das Staatsunternehmen EDF mit 42,3 Milliarden Euro in der Kreide. Zusätzliche Schulden fielen vor allem durch das dritte EPR-Projekt, Hinkley Point in England, an. Ebenfalls kostenintensiv sind die Nachrüstungen alter, zunehmend störanfälliger Reaktoren. Wie viele von ihnen bis 2035 vom Netz gehen sollen, ist noch nicht entschieden. Der ebenfalls teure Rückbau stillgelegter Reaktoren ist nur zu einem Drittel durch Rückstellungen abgedeckt, weshalb Politik und Atomwirtschaft dahin tendieren, notwendige Stilllegungen zu verzögern. Der einst günstige Atomstrom ist für die Kunden in Frankreich mittlerweile zum Kostentreiber geworden.
Großbritannien legte zwei Blöcke endgültig still
Gegenläufig zu den erneuerbarer Energien, die 43 Prozent des Strommix ausmachen, sank der Anteil des Atomstroms auf 16 Prozent. Dafür verantwortlich sind Ausfälle und bedenkliche Sicherheitsprobleme. Zwei Blöcke wurden dieses Jahr endgültig stillgelegt. Es ist zu erwarten, dass zwölf der 13 Reaktoren die nächsten Jahre bis 2030 vom Netz gehen, nur der jüngste Meiler (Sizewell B) soll noch bis 2035 Strom liefern.
Die stark steigenden Kosten zwingen Privathaushalte zum Umdenken. Neue gesetzliche Vorgaben müssen beachtet werden.
Sollte Deutschland der Ostseepipeline Nord Stream 2 die Betriebsgenehmigung versagen? Christoph von Marschall hält das für eine gute Idee, Wolfgang Mulke nicht.
Linken-Politiker Klaus Ernst mahnt mehr Tempo und eine faire Kostenverteilung bei der Energiewende an. Er wirbt zudem für eine stabile Partnerschaft mit Russland.
Mehrere Neubauprojekte wurden fallen gelassen. Das einzig verbliebene Projekt in Hinkley Point, wo zwei EPR-Reaktoren mit einer Gesamtleistung von 3,3 Gigawatt entstehen sollen, hat sich drei Jahre nach Baubeginn bereits um zehn Milliarden Euro verteuert. Der französische Hauptinvestor EDF hatte 2013 mit der britischen Regierung vereinbart, die Stromkunden mit einer 35-jährigen Einspeisevergütung von zehn Cent pro Kilowattstunde zuzüglich Zinsen das Projekt mitfinanzieren zu lassen. Weil dies nun nicht ausreicht, wird das britische Parlament über ein Finanzierungsmodell entscheiden, bei dem die Kunden sogar in Vorleistung gehen. Nach wie vor unterstützt die Regierung die Entwicklung von SMR, wobei sie sich den Bau einiger Prototypen für Anfang der 2030er Jahre erhofft.
Trotz der Katastrophe von Fukushima wurde seit 2015 die Wieder-Inbetriebnahme von neun Reaktoren gegen Widerstände in der Bevölkerung durchgesetzt. Ob und wie viele weitere Meiler noch ans Netz gehen werden, hängt auch vom Ausgang laufender Gerichtsverfahren ab.