Nato-Jubiläum : Raketen zählen, Frieden sichern: Die Nato und ihre Entwicklung
Von nuklearer Abschreckung bis zur Friedensdividende: Die Nato prägte den Kalten Krieg – und bleibt angesichts neuer Spannungen von zentraler Bedeutung.
"Ich gehe Raketen zählen." So hieß es in Bonn zu Zeiten des Kalten Krieges, wenn eine Dienstreise zur Nuklearen Planungsgruppe (NPG) der Nato anstand. Hinter der flapsigen Formulierung stand eine todernste Sache: Was wissen wir über die sowjetische Atomrüstung und welche Schlüsse ziehen wir daraus für die eigene Strategie? Auch Journalisten fuhren regelmäßig mit zum Raketenzählen, erfuhren dort die Ergebnisse und Manches mehr. Schließlich müssen Demokratien auch sicherheitspolitische Beschlüsse gegenüber der Öffentlichkeit vertreten. Was nicht immer einfach ist, wie sich vor allem beim wohl wichtigsten Ergebnis der Nuklearen Planungsgruppe zeigte, dem Nato-Doppelbeschluss von 1979, gegen den dann in Westdeutschland Hunderttausende auf die Straße gingen.
Durch Deutschland ging damals die Frontlinie des Kalten Krieges. Die Bundeswehr wäre im Bündnisfall fast vollständig dem Nato-Kommando unterstellt worden. Auch in die Einsatzplanung für Atomwaffen war die Nicht-Atommacht Deutschland eingebunden, im Rahmen der Nuklearen Teilhabe, die im Übrigen bis heute gilt. Deutsche Wehrpflichtige hielten verschlüsselte Schreibfunk-Verbindungen aufrecht, über die im Ernstfall nukleare Einsatzbefehle gelaufen wären. Flugzeuge der Luftwaffe wären dann aufgestiegen, um amerikanische Atombomben ins Ziel zu bringen.
Politisches Bündnis und Wertegemeinschaft
Das war ursprünglich gar nicht so gedacht. Die Nato war 1949 gegründet worden, wie man in England sagte, "to keep the Russians out, the Americans in and the Germans down". Also um die Sowjetunion aus Westeuropa herauszuhalten, die Vereinigten Staaten, deren Außenpolitik in der Vergangenheit oft von Isolationismus geprägt war, in Europa zu halten, aber eben auch, damit Deutschland nicht zum dritten Mal zur Gefahr für seine Nachbarn wird.
Diese Haltung änderte sich in dem Maße, in dem sich einerseits die Ost-West-Konfrontation verschärfte und andererseits die Bundesregierung unter Konrad Adenauer (CDU) glaubhaft machte, dass sie es mit der Einbindung in die westlichen Demokratien ernst meinte und dafür sogar bereit war, das Ziel der Wiedervereinigung zurückzustellen. Schon während der Berlin-Blockade 1948 hatten die USA gemeinsam mit Großbritannien und Frankreich den Versuch der Sowjetunion vereitelt, West-Berlin unter ihre Kontrolle zu bringen, und es war klar, dass sie auch Westdeutschland verteidigen würden. Schon damals legten die USA aber auch Wert auf eine angemessene Lastenverteilung. So wurde aus der ursprünglichen Angst vor einer deutschen Wiederbewaffnung die Forderung danach. 1955 wurde die Bundeswehr gegründet und die Bundesrepublik in die Nato aufgenommen.
Die Nato versteht sich nicht als rein militärisches, sondern als politisches Bündnis, als Wertegemeinschaft, die Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit verpflichtet ist. Das hinderte sie nicht daran, schon bei der Gründung 1949 mit Portugal eine Diktatur mit aufzunehmen. Es überwog die Gemeinsamkeit im Kampf gegen die sowjetische Gefahr. Die war auch nicht von der Hand zu weisen, wie Umsturzversuche in Griechenland und der Türkei gleich nach dem Zweiten Weltkrieg und die Gleichschaltung der Tschechoslowakei 1948 zeigten. Später führten Militärputsche in Griechenland und der Türkei auch nicht zu einem Ausschluss aus der Nato.
Neue Strategie – zum Scheitern verurteilt?
Ein erster grundlegender Wechsel in der Nato-Strategie erfolgte 1967 mit dem Harmel-Bericht. Bis dahin drohte das Bündnis mit "massiver Vergeltung": Jedem sowjetischen Angriff sollte ein atomarer Gegenschlag aus allen Rohren folgen. Das Risiko vollständiger Vernichtung sollte den Frieden sichern. Nun aber schlug der belgische Außenminister Pierre Harmel so etwas wie einen ersten Doppelbeschluss vor. Zum einen sollte weiter militärische Stärke die Gegenseite von einem Angriff abhalten. Zum anderen sollte das politische Gespräch gesucht werden - Abschreckung und Entspannung. Der Harmel-Bericht schlug sich noch im selben Jahr in der neuen Nato-Strategie der flexiblen Erwiderung nieder. Mit ihr wurde die Schwelle für einen Einsatz der eigenen Atomwaffen angehoben und die Bedeutung der konventionellen Streitkräfte erhöht. Gleichzeitig läutete der Harmel-Bericht die abgestimmte Entspannungspolitik des Westens ein, die schon bald Ergebnisse zeigte und mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) ein Fundament für das Ende des Kalten Krieges legte.
Zunächst drohte die neue Strategie zu scheitern. Die Sowjetunion begann 1976, mobile nukleare Mittelstreckenraketen zu stationieren. Sie waren aufgrund ihrer Reichweite eine Bedrohung für Westeuropa, nicht aber für die USA. Die Europäer hatten den sowjetischen SS-20-Raketen nichts entgegenzusetzen. Konnten sie sich darauf verlassen, dass die USA einen auf Westeuropa beschränkten Angriff mit ihren Interkontinentalraketen beantworten und damit die eigene Vernichtung im Gegenschlag riskieren würden? Die Sorge im Westen war, die Sowjetunion könnte allein mit der Drohung eines Einsatzes der SS-20 ihr altes Ziel erreichen, Amerika und Europa zu entkoppeln.
Als Antwort fasste die Nato, angestoßen vom damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), Ende 1979 den berühmten Doppelbeschluss: Nachrüstung und Rüstungsbegrenzung. Zum einen sollten die USA Raketen und Marschflugkörper mittlerer Reichweite in Europa stationieren und damit veraltete Systeme kurzer Reichweite ersetzen. Zum anderen sollte der Westen mit der Sowjetunion über Obergrenzen für Mittelstreckenwaffen verhandeln. Allerdings kamen die Verhandlungen lange Zeit nicht voran. Während die Sowjetunion weiter aufrüstete und die Nachrüstung der Nato näherrückte, gewann im Westen, vor allem in der Bundesrepublik und den Niederlanden, die sogenannte Friedensbewegung immer mehr Anhänger. Ihrer Hauptsorge, einem durch Missverständnisse ausgelösten nuklearen Weltkrieg, gab die Sängerin Nena mit dem Hit "99 Luftballons" Ausdruck. Auch immer größere Teile der SPD rückten von Schmidt ab, was letztlich mit zum Bruch der sozialliberalen Koalition und der Wahl Helmut Kohls (CDU) zum Bundeskanzler führte.
NATO-Beistandspflicht – bisher einmal ausgerufen
Der Beschluss des neugewählten Bundestages im November 1983, mit der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenwaffen zu beginnen, veranlasste die Sowjetunion, alle Rüstungskontrollverhandlungen abzubrechen. Erst nach dem Führungswechsel in der Sowjetunion zu Michail Gorbatschow 1985 kamen die Gespräche über Mittelstreckenwaffen wieder in Gang. Ein Gipfeltreffen mit US-Präsident Ronald Reagan 1986 in Reykjavik brach das Eis, im Dezember 1987 unterzeichneten beide den INF-Vertrag zum Abbau all ihrer nuklear bestückbaren Mittelstreckenraketen. Bis 1991 waren sie verschrottet. Das damit eingeleitete Ende der Ost-West-Konfrontation und der Fall des Eisernen Vorhangs in Europa 1989 brachten die sogenannte Friedensdividende. Alle Nato-Staaten und insbesondere Deutschland reduzierten drastisch Rüstungsetats und Truppenstärken.
Dass in diesen spannungsgeladenen Jahrzehnten keiner der Nato-Staaten Opfer eines noch so begrenzten Angriffs von außen wurde, kann nur als Erfolg des Bündnisses gewertet werden. Die im Nato-Vertrag vorgesehene Beistandspflicht wurde erst später und ein einziges Mal ausgerufen, nämlich nach dem Terrorangriff auf die USA am 11. September 2001. Die Bündnispartner unterstützten damit das militärische Vorgehen der Vereinigten Staaten gegen Afghanistan, das den Al-Qaida-Chef Osama bin Laden beherbergte.
Bereits 1992 hatte die Nato ihre Bereitschaft zu Out-of-area-Einsätzen vereinbart, also zu Militäreinsätzen außerhalb des vertraglichen Nato-Gebiets, sofern der UN-Sicherheitsrat oder die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ein Mandat erteilt. 1999 kam es zu einem solchen Einsatz, allerdings ohne Mandat. Um massive Angriffe auf die Zivilbevölkerung des Kosovo zu unterbinden, flogen Nato-Flugzeuge Angriffe auf serbischer Truppen. 2011 dann befehligte die Nato mit UN-Mandat die Überwachung einer Flugverbotszone in Libyen, allerdings wurden dabei auch massiv Landstreitkräfte angegriffen. An diesem Einsatz beteiligte sich Deutschland nicht, verhinderte ihn aber auch nicht durch sein Veto. Dies wäre möglich gewesen, denn Entscheidungsprinzip in der Nato ist der Konsens. Oberstes Entscheidungsgremium ist der Nordatlantikrat, in den die Mitgliedstaaten ihre Vertreter entsenden. Auf Botschafterebene arbeitet der Nordatlantikrat permanent, halbjährlich treffen sich die Außen- und Verteidigungsminister sowie etwa alle zwei Jahre die Regierungschefs. Die Frage der Atomwaffen hat der Nordatlantikrat auf die Nukleare Planungsgruppe übertragen.
1990 wird die DDR Teil der NATO
Der Militärausschuss, bestehend aus Offizieren der Mitgliedsstaaten, unterstützt die politischen Führungsgremien und setzt ihre Beschlüsse um. Geleitet werden Nordatlantikrat, NPG und der Apparat im Brüsseler Nato-Hauptquartier vom Nato-Generalsekretär, derzeit Jens Stoltenberg.
Heute spricht niemand mehr von Friedensdividende. Im Zuge der deutschen Einheit wurde die ehemalige DDR 1990 Teil der Nato. Die neu demokratisierten mitteleuropäischen Staaten drängten ebenfalls in das Bündnis. Polen, die Tschechische Republik und Ungarn mussten darauf bis 1999 warten, 2004 kamen Rumänien, Bulgarien, die Slowakei, Litauen, Lettland, Estland und Slowenien hinzu. Die letzten Nato-Erweiterungen waren 2009 um Kroatien und Albanien sowie 2017 um Montenegro. Diese Erweiterungen wertete Russland unter der Führung von Wladimir Putin als gegen sich gerichtet, ebenso wie den Aufbau amerikanischer Raketenabwehr-Systeme im östlichen Mitteleuropa. Russland reagierte mit einer neuen Aufrüstung, auf welche die Nato-Staaten nun wiederum eine Antwort suchen. Als Russland Anfang 2014 die Krim annektierte, vereinbarten die Staats- und Regierungschefs des Bündnisses, jeder von ihnen solle bis 2024 Militärausgaben von zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung anstreben.
Tatsächlich erhöhen Deutschland und weitere Nato-Staaten seit einigen Jahren wieder ihre Verteidigungsausgaben. Allerdings wird der Beschluss von 2014 unterschiedlich interpretiert. Schon US-Präsident Barack Obama hat das Zwei-Prozent-Ziel eher wörtlich genommen, Nachfolger Donald Trump drängt nun massiv darauf. Andere Staaten, allen voran Deutschland, sehen sich nur verpflichtet, bis 2024 dem Zwei-Prozent-Ziel deutlich näher zu kommen. Verstärkt wird der Konflikt durch Trumps Drohung, die USA könnten auch ohne die Nato, wenn die Partner nicht Wort hielten. Zwar hat danach der US-Kongress ein deutliches Bekenntnis zum transatlantischen Bündnis abgelegt, und auch von Trump kamen versöhnlichere Töne. Ganz abgerückt von seiner Drohung ist er aber nie.
Eine neue Entspannungspolitik gegenüber Russland ist indes nicht absehbar. Der Nato-Russland-Rat, 2002 ebenso wie ein Nato-Ukraine-Rat als Gremium ständiger Zusammenarbeit gegründet, ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Statt neuer Abrüstungsverträge kündigten zuletzt die USA und Russland den INF-Vertrag. Die massive Aufrüstung Chinas, obwohl weit vom Nato-Gebiet entfernt, verkompliziert noch alle Bestrebungen um Rüstungskontrolle. Die Herausforderung durch internationalen Terrorismus und durch Cyber-Attacken bleibt oder wächst sogar. Es wird für die Nato im 71. Jahr ihres Bestehens nicht einfacher.