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Interview zum Afghanistan-Abzug : "Es fehlte weitgehend an Koordinierung"

Die Obleute von SPD und Union, Jörg Nürnberger und Thomas Röwekamp, ziehen eine Zwischenbilanz zur Arbeit des Untersuchungsausschusses Afghanistan.

27.06.2024
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7 Min
Foto: DBT/Lorenz Huter/photothek

Die Obleute von SPD und Union im Untersuchungsausschuss, Jörg Nürnberger (li.) und Thomas Röwekamp debattieren über die bisherigen Erkenntnisse.

Der Untersuchungsausschuss hat bisher 80 Mal getagt. Was war bisher die überraschendste Erkenntnis für Sie?

Thomas Röwekamp: Neu war für mich die Erkenntnis, dass es bis kurz vor dem Zusammenbruch keinen Plan für die Evakuierung unserer Ortskräfte gab.

Jörg Nürnberger: Ich will es schärfer formulieren. Die Abstimmung zwischen den beteiligten Ressorts lief, bis kurz vor dem Fall Kabuls, immer nach den seit Jahren eingeübten Regularien. Man war nicht in der Lage, auf die Verschärfung der Krise kurzfristig und angemessen zu reagieren. Bis zum Ende herrschte die jeweils eigene Ressortsichtweise. Ohne Kompromissbereitschaft. Eine Erkenntnis für mich ist, dass es weitgehend an Koordinierung fehlte.

Die USA haben die Partner, darunter Deutschland, in die Verhandlungen mit den Taliban nicht eingebunden. Ein Zeuge des Auswärtigen Amtes hat die Entscheidungsfindung der USA eine Black Box genannt. Teilen Sie diese Einschätzung?

Jörg Nürnberger: Der Begriff ist richtig. Dritte waren nur am Rande über den Ablauf und die Inhalte der Gespräche in Doha informiert. Dass man mit den Taliban, ohne die beteiligten Dritten einzubinden, zu einer tragfähigen Vereinbarung kommen wollte, war falsch. Das war eine Fehlleistung der Trump-Administration.


„Das Problem war, dass das OKV nie für eine große Zahl von Ausreisewilligen gedacht war.“
Thomas Röwekamp (CDU)

Thomas Röwekamp: Beide US-Präsidenten, Trump und Biden, legten die Priorität ausschließlich auf den Abzug der eigenen Truppen. Sie haben weder die gewählte afghanische Regierung einbezogen, noch haben sie an die Partner gedacht. Aber die ganze Infrastruktur, die Bewachung der Green Zone, die Möglichkeiten den Flughafen noch zu nutzen et cetera aren an die Präsenz der Amerikaner geknüpft. Keines der Partnerländer wollte Afghanistan so verlassen, die Mission war nicht beendet. Solche Abhängigigkeiten von einem einzelnen Partner dürfen nicht wieder entstehen. Das ist auch ein Auftrag an die künftige gemeinsame europäische Außen- und Verteidigungspolitik.

Objektiv gesehen lief bei der ehemaligen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer alles richtig. Wie haben sich andere Minister verhalten?

Jörg Nürnberger: Bei allen Ministerien gab es positive und negative Seiten, auch dem Bundesentwicklungsministerium (BMZ) ist insgesamt wenig vorzuwerfen.

Thomas Röwekamp: Die Bundeswehr ist geordnet aus dem Land raus. Eine logistische und politische Großleistung. Die Soldatinnen und Soldaten haben angesichts des Stresses, der Gewalt und den Ängsten teilweise Übermenschliches geleistet. Die Bundeswehr hat nicht nur in ihrer eigenen Ressortlogik gedacht, sondern sich sehr früh um die Frage der Ortskräfte und der Evakuierung der Schutzbedürftigen gekümmert, was nicht ihr Kernauftrag war. Hier gab es die Bereitschaft, über die eigenen Ressortgrenzen hinaus Verantwortung zu übernehmen.

Andere Minister haben aber nicht so engagiert gehandelt.

Jörg Nürnberger: Als Kabul fiel, lief in Deutschland der Bundestagswahlkampf auf Hochtouren. Manch handelnde Person kandidierte schon nicht mehr. So auch die damalige Bundeskanzlerin, Angela Merkel. Daher werden wir im Herbst die Motivationslage genau erfragen.

Das ist der Auftrag des Untersuchungsausschusses

🏛️ Der im Juli 2022 eingesetzte Ausschuss untersucht den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und die Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen.

🔎 Betrachtet wird der Zeitraum vom Abschluss des Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung und den Taliban im Februar 2021 bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

⚖️ Lehren aus dem deutschen Engagement in Afghanistan seit 2001 soll die ebenfalls 2022 eingesetzte Enquete-Kommission des Bundestages ziehen.



Haben Sie den Eindruck, dass die Ministerien wegen der Bundestagswahl nicht alles dafür taten, den Menschen in Kabul zu helfen?

Thomas Röwekamp: Ich habe bisher keine Anhaltspunkte dafür. Es ist aber nicht auszuschließen, dass es politische Fehlentscheidungen gab. Zum Beispiel die Entscheidung des Auswärtigen Amtes (AA), sich nicht frühzeitig auf eine große Zahl von ausreisewilligen Ortskräften vorzubereiten. Es gab genügend Hinweise, dass wir es mit dem bisherigen Visaverfahren nicht schaffen würden. Ich nehme wahr, dass das AA sich entschieden hatte, mit Billigung der Hausspitze, nicht frühzeitig zu planen, weil es fürchtete, das falsche Signal für die Stabilität Afghanistans zu senden. Im Rückblick war das eine falsche Einschätzung. Natürlich war auch das BMZ bis zum Schluss davon überzeugt, dass es weiterhin im Rahmen der humanitären Hilfe im Land aktiv bleiben könne und hat keinen Worst-Case-Plan gehabt. Das darf sich nicht wiederholen.

Jörg Nürnberger: Man muss sagen, dass alle beteiligten Ministerien in der Krise immer wieder am Bundesinnenministerium (BMI) scheiterten. Aus Gründen, die wir noch nicht vollständig kennen. Bis zuletzt blieb das BMI der Auffassung, dass das langwierige Ortskräfteverfahren (OKV) das richtige Verfahren für die Aufnahme der Schutzberechtigten sei. Diese Entscheidung des BMI und des damaligen Ministers Horst Seehofer ist eine politische Entscheidung und kritikwürdig.

Thomas Röwekamp: Da widerspreche ich. Alle sind davon ausgegangen, dass das OKV ein gutes Verfahren war. Das war es auch fast bis zum Schluss. Das Problem war, dass das OKV nie für eine große Zahl von Ausreisewilligen gedacht war. Ich sage, dass es umgekehrt das AA war, welches sich zu sehr darauf verlassen hat, dass es zum Visa-on-arrival-Verfahren kommt, wenn der Druck steigt .

Foto: photothek
Jörg Nürnberger (SPD)
ist seit 2021 Abgeordneter des Bundestages. Der Sozialdemokrat und Jurist aus Bayern ist Mitglied im EU- und Verteidigungsausschuss und Obmann im Untersuchungsausschuss Afghanistan. 
Foto: photothek

Waren da nicht auch migrationspolitische Bedenken am Werk?

Thomas Röwekamp: Das BMI war stets darauf bedacht im OKV sicherzustellen, dass gefährdete Personen Schutz bekommen. Deswegen die Betonung auf die individuelle Gefährdungsfeststellung. Es wollte aber auch sicherstellen, dass keine Sicherheitsgefährdung für Deutschland entsteht. Das BMI hat die Einzelfälle zügig bearbeitet. Die Ausreise scheiterte dann häufig an der fehlenden Visaausstellung.

Jörg Nürnberger: Ich muss Herrn Röwekamp widersprechen. Eine Krisenvorsorge hat beim BMI nicht stattgefunden, vielleicht auch aus den Gründen, die Sie in Ihrer Frage formuliert haben. Das muss noch festgestellt werden. Die USA agierten pragmatisch und flogen die Menschen zunächst in Drittstaaten aus, wo sie erstmal sicher waren. Hätte sich Deutschland vorbereitet, hätten wir das möglicherweise auch so machen können. Ich finde es angesichts der bisherigen Einblicke schwierig zu behaupten, Migrationspolitik habe keine Rolle gespielt. Das BMI und auch der Minister persönlich haben sich noch im Juli 2021 dafür eingesetzt, Abschiebeflüge nach Afghanistan durchzuführen. Da war die Lage bereits sehr kritisch. Da fragt man sich schon, ob da nicht wahlkampftaktisch entschieden wurde. Das müssen wir noch sehr intensiv hinterfragen.

Thomas Röwekamp: Wir reden über die Abschiebung einiger gefährlicher Straftäter in ihr Heimatland in einer Zeit, wo das AA die in Afghanistan lebenden deutschen Staatsangehörigen noch nicht zur Ausreise auffordern wollte. Entweder ist die Lage so gefährlich, dass ich nicht abschieben kann. Dann muss ich mich um die eigenen Staatsangehörigen kümmern. Oder aber die Lage ist doch nicht so gefährlich, dann kann ich Straftäter zurückführen. Zu sagen, ich schiebe nicht ab, aber evakuiere auch nicht, ist aus meiner Sicht unlogisch.

Foto: Karlies Behrens
Thomas Röwekamp (CDU)
ist ebenfalls Jurist und seit 2021 Mitglied des Bundestages. Der Christdemokrat aus Bremen gehört dem Verteidigungsausschuss an und ist für seine Fraktion Obmann im Untersuchungsausschuss.
Foto: Karlies Behrens

Jörg Nürnberger: Die Entscheidung nicht zu evakuieren, oblag nicht nur dem AA, sondern allen beteiligten Ministerien. Die Reaktionen der Ministerien waren der Situation nicht angemessen. Es gab zudem eine Lageeinschätzung, die der offensichtlichen Entwicklung der Lage nicht entsprochen hat. Selbst das BMZ hatte zum Teil bessere Informationen vorliegen als unser Nachrichtendienst. Der musste später zugeben, dass aus Mangel an Informationen aus der Fläche, die Basis für korrekte Lageeinschätzungen sehr dünn geworden war. Noch am 13. August 2021 hatte es im Krisenstab geheißen, die Lage sei stabil. Damit waren die handelnden politischen Personen mit ihren Entscheidungen relativ allein gelassen worden.

Verschiedene Ressorts hatten sich sich gegenseitig blockiert. Warum machte die Bundeskanzlerin nicht von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch?

Thomas Röwekamp: Weil es keine Situation gab, in der sie hätte eingreifen müssen. Es gab die klare Zuständigkeit des AA. Sie tat es, als es um die Frage ging, ob wir es im Notfall schaffen, alle auszufliegen. Da kam das Thema Charterflüge auf. Diese wurden dann nicht zur Verfügung gestellt, weil die Menschen, die ein Visum hatten, mit Linienflügen ausreisen konnten. Diese Bilder vom Flughafen Kabul sind ja erst entstanden, als die Taliban Kabul eingenommen haben. Es gab davor keinen Grund für die Kanzlerin einzugreifen.

Die Ressorts hatten sich aber über Monate gegenseitig blockiert.

Thomas Röwekamp: Es gab aber keine politisch eskalierte Situation. Die Anzahl der Gefährdungsanzeigen hatte bis Juni 2021 das System nicht überfordert.

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Jörg Nürnberger: Das sehe ich anders. Ressortegoismen hätten viel früher zugunsten einer gemeinschaftlichen Lösung eingehegt werden müssen. Gefährdete Menschen mussten erst ein pakistanisches Visum beantragen, um in Islamabad ein deutsches Visum zu beantragen. Das war auch dem Kanzleramt bekannt. Wir müssen noch erfragen, inwieweit die Kanzlerin tatsächlich informiert war und wie sie sich informieren ließ. Sie hätte im Gespräch mit ihren Kabinettskollegen darauf hinwirken können, Lösungen zumindest vorzubereiten.

Die jetzt in Deutschland lebenden ehemaligen afghanischen Ortskräfte haben eine befristete Aufenthaltsdauer. Hat Deutschland langfristig eine Verantwortung oder werden sie in einigen Jahren ausgewiesen?

Thomas Röwekamp: Nein, wir werden jeden Einzelfall zu prüfen haben. Es wird sicher niemand zurückgeführt werden, der als Ortskraft für uns gearbeitet hat und mittlerweile rechtstreu hier lebt.

Jörg Nürnberger: Das kann ich unterstreichen.

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