Afghanistan-Einsatz : "Es wäre besser gewesen, das Geld in Detroit auszugeben"
Ausländische Experten fällen im 1. Untersuchungsausschuss ein vernichtendes Urteil über die internationale Mission - und mahnen Lehren für die Zukunft an.
Ralf Stegner (SPD) ist sichtlich stolz. "Es kommt außerordentlich selten vor, dass ausländische Experten vor dem Bundestag aussagen", betonte der Vorsitzende des 1. Untersuchungsausschusses Afghanistan vergangene Woche vor Beginn der öffentlichen Anhörung mit Gästen aus den USA und Italien. Es war Stegners Idee, sie einzuladen, damit sie ihre, für die deutschen Abgeordneten teilweise überraschende Perspektive auf die gescheiterte Afghanistan-Mission schildern.
Der zivile Nato-Repräsentant in Afghanistan, Stefano Pontecorvo (Mitte), leitete im Sommer 2021 die Evakuierung in Kabul.
Die Anhörung des Unabhängigen Generalinspekteurs des US-Kongresses, John Sopko, sowie dessen Kollegen David Young, des ehemals für die Operationen verantwortlichen Sekretärs der Nato, John Manza, und des ehemaligen Zivilen Repräsentanten des Bündnisses in Afghanistan, Stefano Pontecorvo, geriet dann auf jeden Fall erfrischend, die Gäste antworteten direkt und klar auf die Fragen. Und sie waren sich in einem Punkt einig: Die gesamte 20-jährige Afghanistan-Mission habe trotz guten Willens keine Chance auf Erfolg gehabt. Die Kultur des Landes sei eine ganz andere, da sei es schwer, westliche Vorstellungen zu verwirklichen. Mit Blick auf die USA räumte Young außerdem ein, man habe vor dem Einsatz nichts über das Land und die dortigen Verhältnisse gewusst.
Die Ziele der Mission seien zu weit gefasst gewesen und zu viel Geld sei verschwendet worden - auch darin bestand Einigkeit. "Ich komme aus Detroit und frage mich, ob es nicht besser gewesen wäre, das Geld dort auszugeben", sagte Manza. Man habe versucht, eine solide Wirtschaft aufzubauen, aber eine "Fake-Wirtschaft" sei entstanden. Reiche seien reicher geworden, den Armen habe es nichts gebracht.
Zeugen: Zusammenbruch war seit vielen Jahren vorauszusehen
Sopko nannte die Maßnahmen nicht nachhaltig und wies auf strategische Fehler hin. So habe der Westen eine moderne, mit hochtechnologischen Waffen ausgestattete Armee aufgebaut. Doch die Ausrüstung habe von westlichen Subunternehmern gepflegt werden müssen. "Als sie gingen, fiel die Armee auseinander, denn die afghanischen Soldaten konnten nicht einmal die Bedienungsanleitungen der Waffensysteme lesen", berichtete Sopko. Sein Mitarbeiter Young fügte hinzu, um ein Land wie Afghanistan wiederaufzubauen, müsse man entsprechendes Personal Jahre vorher vorbereiten.
Einhellig erklärten die Gäste, was ihrer Ansicht nach der afghanischen Regierung endgültig das Genick gebrochen habe: das Doha-Abkommen zwischen der Trump-Administration und den Taliban und die spätere Entscheidung des US-Präsidenten Joe Biden, die US-Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Doch der Zusammenbruch seit vielen Jahren vorauszusehen gewesen. Experten hätten darüber unzählige Berichte geschrieben, aber politische Entscheidungsträger nur die Aussagen in Betracht gezogen, die ihnen angenehm gewesen seien, kritisierte Manza.
Stefano Pontecorvo, der am Tag des Einmarsches der Taliban in die Hauptstadt in Kabul war, gewährte den Abgeordneten Einblick in bisher kaum bekannte Details bei der Evakuierung von westlichen Diplomaten, Experten und lokalen Ortskräften vom Flughafen Kabul. Er schilderte die damalige Lage als "chaotisch, unsicher und unreguliert". Im Juli 2021 sei in der Nato über eine zivile Folgemission nachgedacht worden. Der Fall Kabuls habe diesen Überlegungen jedoch ein abruptes Ende gesetzt. Die damals noch im Land befindlichen US-amerikanischen und britischen Truppen hätten nicht mehr der Nato unterstanden und lediglich die Aufgabe gehabt, ihre Botschaften und den Flughafen zu verteidigen. Daher habe er beschlossen, selbst zum Flughafen zu gehen, um die Evakuierungsoperation zu leiten. In jenen Tagen seien alle Entscheidungen vor Ort und spontan getroffen worden. Diskussionen in den westlichen Hauptstädten hätten keine Rolle mehr gespielt.
Pontecorvo empfahl, Afghanistan nicht aus den Augen zu verlieren. Nach der Machtübernahme der Taliban, hätten mehrere Terrororganisationen ihre Zentrale nach Afghanistan verlegt.
Ignoranz der afghanischen Realität
Bei einem Pressegespräch am nächsten Tag gingen Sopko und Young noch härter mit der Mission ins Gericht. Sopko sprach mit den Journalisten unter anderem über die "endemische Korruption" in Afghanistan. Die USA hätten dort über Jahre die Gehälter von Soldaten, Polizisten oder Lehrern bezahlt. Heute wisse man, dass 60 bis 70 Prozent dieser Menschen gar nicht existierten. Es gebe sogar Gebäude, die die USA gebaut haben wollen, die aber nicht zu finden seien. Young zufolge sei am Anfang des Einsatzes auch das politische System falsch konzipiert worden. Die Amerikaner hätten aus Angst, das Land könne auseinanderfallen, ein zentralistisches System mit einem starken Präsidenten und einem schwachen Parlament installiert. Dies habe jedoch die afghanische Realität ignoriert. Dass niemand dem Volk gegenüber Rechenschaft ablegen musste, habe unter anderem die Korruption beflügelt.
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20 Jahre dauerte der Einsatz in Afghanistan, in dem gleichzeitig gekämpft und das Land aufgebaut wurde. Am Ende scheiterte beides.
Zwei Gremien sollen den Einsatz in Afghanistan und dessen chaotisches Ende aufklären. In den kommenden Monaten werden sie dazu zahlreiche Zeugen anhören.
Sopko mahnte, Lehren aus dem Afghanistan-Einsatz zu ziehen. "Es wird ähnliche Missionen in der Zukunft geben", sagte er, "und diese werden wahrscheinlich unweit von Deutschland, zum Beispiel in der Ukraine, stattfinden." Sein Rat: "Nicht zu viel Geld ausgeben, es wird verschwendet. Auch in der Ukraine gibt es Korruption, wenn auch nicht so massiv wie in Afghanistan. Bevor man dorthin geht, muss man verstehen, wie das System dort funktioniert und wer was macht. Und schließlich sollten die Aktionen aller Akteure koordiniert werden, was in Afghanistan überhaupt nicht der Fall war."
Am Ende der fast siebenstündigen Anhörung bedankte sich Sopko bei Ralf Stegner für die Gelegenheit, seine Befunde vor deutschen Abgeordneten zu präsentieren: "Ich habe an vielen Ausschusssitzungen teilgenommen, aber eine so lange hatte ich nie. Ich habe viel gelernt."