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Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes : "Über die Köpfe hinweg"

Experten üben im Untersuchungsausschuss harsche Kritik am Doha-Abkommen.

26.09.2022
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3 Min
Foto: picture-alliance/EPA-EFE/Stringer

Unter der Präsidentschaft von Donald Trump verhandelten die USA mit den radikalislamischen Taliban über den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan.

Warum kam es zu dem chaotischen Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan im Jahr 2021? Diese Frage steht im Fokus der Arbeit des 1. Bundestags-Untersuchungsausschusses in dieser Legislaturperiode. Vergangenen Donnerstag nahm das Gremium mit einer öffentlichen Anhörung von Sachverständigen seine inhaltliche Arbeit auf. Mehrere Stunden lang richtete es sein Augenmerk auf die Ereignisse ein Jahr zuvor, konkret auf den hochumstrittenen Pakt, den die USA und die radikalislamischen Taliban im Februar 2020, damals noch unter der Präsidentschaft Donald Trumps, schlossen. Im sogenannten Doha-Abkommen hatten beide damals, unter Ausschluss der Zentralregierung in Kabul und der internationalen Partner, den Rückzug der US-Truppen aus Afghanistan vereinbart. Die Taliban sollten im Gegenzug Friedensverhandlungen mit der afghanischen Regierung beginnen. Es kam bekanntlich anders. Die USA und andere Nato-Verbündete begannen ihren Abzug erst am 29. April 2021. Nur Tage später, im Mai, starteten die Taliban ihren Eroberungszug durch das Land, der am 15. August mit der Einnahme Kabuls und dem Sturz der Regierung endete - und einer regelrechten Flucht der noch im Land verbliebenen internationalen Truppen.

Im Untersuchungsausschuss zogen denn auch alle zwölf geladenen Expertinnen und Experten ein vernichtendes Urteil über das Doha-Abkommen und dessen Folgen. So urteilte Katja Mielke vom Bonner International Center for Conflict Studies, viele Akteure seien bei der Aushandlung des Abkommens "außen vor gelassen" worden, neben der damaligen afghanische Regierung auch die Vertreter der afghanischen Zivilgesellschaft. Ihr Kollege Conrad Schetter nannte es zudem "handwerklich miserabel". Es hätten verbindliche Kriterien und Instrumente zum Monitoring gefehlt.


„Die gewählte bilaterale Verhandlungsstrategie war nicht geeignet, dauerhaft Frieden zu schaffen.“
Hans-Lothar Domröse, Bundeswehrgeneral

Hans-Lothar Domröse, der zwischen 2008 und 2016 als General mehrmals in Afghanistan war, betonte in seiner schriftlichen Stellungnahme, er habe die Ausgrenzung der Alliierten durch die US-Regierung als Fehler empfunden. "Die gewählte bilaterale Verhandlungsstrategie war nicht geeignet, dauerhaft Frieden zu schaffen und entsprach auch nicht unserem altbewährten Ansatz." Weil die Bundeswehr ihre Kasernen nicht habe verlassen dürfen, habe sie zudem nicht kontrollieren können, was bei den von Deutschland ausgebildeten afghanischen Truppen vor sich gehe.

Mit unerwarteten Folgen: Als die Taliban im Frühjahr 2021 ihre Offensive starteten, gaben die Streitkräfte der afghanischen Nationalarmee viele Provinzhauptstädte nahezu kampflos auf. Beobachter führen das auch auf die weitere Schwächung der afghanischen Zentralregierung durch das Doha-Abkommen zurück. Die meisten Soldaten hätten sich letztlich geweigert, für sie ihr Leben zu riskieren, heißt es etwa in einer Analyse der Bundesakademie für Sicherheitspolitik.

Schlagartiger Kurswechsel

Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik betonte, die Trump-Administration habe mit dem Doha-Abkommen die bisherige US-Politik "schlagartig geändert". Bis 2019 hätten die US-Regierungen mantraartig wiederholt, es dürfe "keine Verhandlungen über die Köpfe der Afghanen hinweg" geben. Diese Haltung sei quasi über Nacht aufgegeben worden. Außerdem seien bei der letzten Zustimmung des Bundestages zur Fortführung des Afghanistan-Einsatzes im März 2021 einige Faktoren übersehen worden. Etwa die kurz zuvor bekannt gewordene Tatsache, dass die afghanische Armee damals nicht über 280.000 Soldaten verfügte, sondern nur über 150.000. Außerdem sei schon klar gewesen, dass die afghanischen Sicherheitskräfte auf die Luftunterstützung der USA angewiesen waren.

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Die afghanische Politikerin Fatima Gailani gehörte jenem Team an, das laut dem Doha-Abkommen eine politische Lösung zwischen Taliban und afghanischer Regierung verhandeln sollte. Im Ausschuss erklärte sie, dass es jedoch die Details des Abkommen nicht kannte. Auch seien weder die US-Seite noch die Taliban am Erfolg der Verhandlungen interessiert gewesen. Ihr Scheitern führte Gailani letztlich aber darauf zurück, dass die Delegation aus Kabul uneins über ihre Ziele gewesen sei.

Der Untersuchungsausschuss setzt am Donnerstag seine Arbeit mit den ersten Zeugenbefragungen fort. Vorgeladen sind neben Vertretern des Bundesverteidigungsministeriums auch der Leiter Einsatzgruppe Afghanistan im Einsatzführungskommando der Bundeswehr.

Der Autor war lange Korrespondent in Kabul und arbeitet heute als freier Journalist in Berlin.