Äthiopien : Der tägliche Kampf ums Wasser
20 Liter Wasser schleppt die 16-jährige Hana Kena jeden Morgen vom Fluss in ihr Dorf. Sie hofft auf einen Brunnen, damit sie endlich mehr Zeit für die Schule hat.
Der Tag beginnt für Hana Kena lange vor Sonnenaufgang, um 5:30 Uhr. Zeit für ein Frühstück bleibt der 16-Jährigen in ihrem Dorf im Südwesten Äthiopiens nicht. Anziehen, der gewohnte Griff zum Plastikkanister, Aufbruch. Eine halbe Stunde dauert der Fußweg zum Geferso-Fluss. Dort wäscht sie sich, um zu Hause kein Wasser zu verschwenden. Das Mädchen füllt den Kanister mit 20 Litern. Der Rückweg dauert länger als der Hinweg, das Gewicht bremst. Insgesamt beansprucht das morgendliche Ritual zwei Stunden.
Wasserholen: Aufgabe der Mädchen und Frauen
Die Eltern haben ihr nie erklärt, warum das Wasserholen in ihrer Familie Aufgabe der Mädchen und Frauen ist - wie in 70 Prozent aller Haushalte in Entwicklungsländern mit schlechter Wasserversorgung. Sie hat auch nie gefragt. "So war es immer", sagt Kena, "es wird einfach von uns erwartet". Die tägliche Verantwortung, Wasser zu beschaffen, lastet schwer auf ihren schmalen Schultern. Dies beeinträchtigt ihre Bildung, Gesundheit und Zukunftschancen.
Der Gang zum lebenswichtigen Fluss ist in Äthiopien vor allem Frauensache. Von dort müssen schon junge Mädchen die schweren Kanister nach Hause tragen.
Nur in der Trockenzeit, wenn der Fluss verschwindet, sind es die Männer, die zu einer weit entfernten Quelle aufbrechen und Wassermengen auf ihre Esel laden. Dann muss auch Kenas älterer Bruder mit anpacken. Die Unbeständigkeit der Wasserquellen am Horn von Afrika wird durch den Klimawandel verschärft, der die Regenmuster unvorhersehbar macht und immer häufiger zu Extremwetter-Katastrophen führt.
Doch im Alltag ist das tägliche Problem mit dem Wasser Kenas Job. Das Mädchen gehört zu den rund zwei Milliarden Menschen, die laut Weltwasserentwicklungsbericht der Vereinten Nationen (VN) keinen Zugang zu sauberem und sicherem Trinkwasser haben.
Staudamm soll nötige Voraussetzung für neue Fabriken und ausländische Investitionen liefern
Experten warnen, dass Bevölkerungswachstum, Verstädterung, Klimawandel und Wirtschaftswachstum die Wasserressourcen belasten. Ohne entschlossene Maßnahmen würden die weltweiten nachhaltigen Entwicklungsziele verpasst, teilte die Weltbank kürzlich wenig überraschend mit - die Agenda 2030 der VN verspricht schließlich nicht weniger als Zugang zu Trinkwasser fur alle. Ein, gelinde formuliert, ambitioniertes Anliegen, das man voraussichtlich verfehlen wird. Die multinationale Entwicklungsbank warnt, dass "die Wasserkrise in globalen, nationalen und regionalen Konflikten resultieren" könne.
Besonders deutlich zeigt sich dieses Konfliktpotenzial in Kenas Heimat Äthiopien. Das Land befüllt seit einigen Jahren die "Grand-Ethiopian-Renaissance-Talsperre", kurz "GERD". Es ist das wichtigste Prestigeprojekt in der Geschichte des ehrgeizigen Landes. Das Wasserkraftwerk steht für das Versprechen auf Fortschritt und Industrialisierung. Der Staudamm soll die nötige Voraussetzung für neue Fabriken und ausländische Investitionen liefern, auch zum Vorteil der Bevölkerung.
Nur jeder Zweite hat Zugang zu Elektrizität
Das Wirtschaftswachstum war während der vergangenen 15 Jahre trotz der Konflikte in Tigray und aktuell der Amhara-Region beachtlich. Dennoch hat nur jeder Zweite Zugang zu Elektrizität, eine eng mit Wassermangel verbundene Infrastrukturschwäche.
Flussabwärts aber liegt Ägypten, wo sie glauben, dass ihnen GERD den Nil und damit buchstäblich die Lebensader abschnüren wird. Das Wasser des Landes stammt zu 85 Prozent vom Blauen Nil und damit aus Äthiopien, von wo aus es bislang ungehindert durch den Sudan und schließlich nach Ägypten fließt. Die Wasserversorgung hängt also nahezu vollständig von dem Fluss ab. Entsprechend streiten die beiden afrikanischen Regionalmächte seit weit über einem Jahrzehnt um das Wasser des Nils.
Über die Hälfte aller Menschen lebt in von Wasserknappheit bedrohten Gebieten
Ägyptens Präsident Abdel Fattah el-Sisi drohte 2019 öffentlich mit der "Alarmbereitschaft" seiner Streitkräfte, "notfalls außerhalb unserer Grenzen". Einzig das Glück, dass die Befüllung überwiegend von überdurchschnittlichen Regenfällen begleitet wurde, habe eine Eskalation verhindert, sagen Analysten.
Der Nil ist weltweit längst nicht das einzige Gewässer mit Konfliktpotenzial. Über die Hälfte aller Menschen lebt in Gebieten, die von Wasserknappheit bedroht sind. Schon eine Studie der EU-Kommission aus dem Jahr 2007 kam zu dem Schluss, dass Klimawandel und Bevölkerungswachstum zu zunehmendem Wettbewerb um Wasser und damit regionaler Instabilität führen könnten. Neben dem Nil wurden in diesem Zusammenhang unter anderem das Ganges- und Brahmaputra-Delta in Bangladesch genannt, Nutzungskonflikte um den Indus zwischen Indien und Pakistan sowie der Streit um die Nutzung des Colorado Flusses zwischen den USA und Mexiko erwähnt. Die Reihe ließe sich lange fortsetzen. Zu den flüssigen Konfliktherden zählt das Wasser des Jordan-Flusses im trockenen Nahen Osten, auch im Darfur-Konflikt im Sudan spielen die knappen Wasserressourcen schon immer eine Rolle.
Hana Kena hofft auf einen Brunnen
Von der großen Geopolitik um das Wasser bekommen sie im Dorf von Hana Kena wenig mit. Während der vergangenen Jahre passierte hier beim eher alltäglichen Kampf ums Wasser wenig, zuletzt fasste das Mädchen aber ein wenig Hoffnung. Die deutsche Hilfsorganisation "Menschen für Menschen" hat die Arbeit für zwei Bohrlöcher in ihrem Dorf aufgenommen. "Ich hoffe, dass wir bald Zugang zu sauberem Wasser haben und dass unsere Probleme weniger werden", sagt Kena, "ich hoffe, dass ich die Zeit für meine Bildung nutzen kann."
An der Frage, ob das gelingt, könnten sich ihre Träume entscheiden. Denn es geht um mehrere Stunden täglich. Um acht muss sie eigentlich in der Schule sein, doch manchmal kommt sie so spät vom Fluss zurück, dass sie den Unterricht ganz verpasst. Und nach dem Mittagessen hilft sie ihrer Mutter im Haushalt. Danach bricht sie wieder zum Fluss auf. Diese zweite Tour nimmt meist mehr Zeit in Anspruch, da die Warteschlangen länger sind. "Am Nachmittag kann es über 90 Minuten dauern, bis ich an der Reihe bin", sagt sie. Dann muss sie Wäsche waschen - zu Hause geht das nur, wenn es regnet. Und das ist selten. Auf dem Rückweg schleppt sie wieder den vollen Wasserkanister.
NGOs kritisieren Nahrungsmittelkonzerne wie Nestlé oder Danone in Entwicklungsländern. Das Problem sind aber oft eher mangelnde staatliche Strukturen vor Ort.
Der Wasserkreislauf sichert die irdischen Süßwasserreserven. Doch Klimawandel und Mensch stören - mit immer deutlicheren Auswirkungen.
Konflikte um Wasser nehmen zu, auch weil die lebensnotwendige Ressource in vielen Regionen der Welt durch den Klimawandel immer knapper wird.
Erst am Abend bleibt Zeit für die Hausaufgaben. Falls sie nicht über ihren Heften einschläft, erschöpft von den täglichen Pflichten, den schmerzenden Muskeln. Überleben geht letztlich vor Bildung.
Besserer Zugang zu Wasser würde die nötige Zeit zum Lernen verschaffen. Noch hat das Mädchen ihr großes Ziel nicht aufgegeben. Sie will helfen, einen anderen großen Mangel in ihrer strukturschwachen Region zu beheben. Bislang müssen die Menschen bei schweren Krankheiten hundert Kilometer weit reisen. Kena träumt davon, das zu ändern. Als erste Ärztin in der Geschichte ihres Dorfes.
Der Autor ist Afrika-Korrespondent der Welt-Gruppe. Die Zitate von Hana Kena stellte die Organisation "Menschen für Menschen" bereit.