Vor der Konstituierung : Das große Stühlerücken im EU-Parlament
Das neue EU-Parlament trifft sich am 16. Juli zu seiner ersten Sitzung. Die Fraktionen stellen sich unterdessen neu auf und klären Führungsfragen.
Nach der Europawahl richtet sich das EU-Parlament mit Hochdruck für die neue Wahlperiode ein. Die Vorbereitungen in Brüssel begannen schon am Tag nach der Wahl, das entscheidende Zieldatum ist der 16. Juli: Dann kommt das Parlament in Straßburg zur konstituierenden Sitzung zusammen. Im Lauf der vier Tage werden die 720 Abgeordneten zunächst die Parlamentspräsidentin wählen, wobei an einer Bestätigung von Amtsinhaberin Roberta Metsola (EVP) aus Malta zunächst für zweieinhalb Jahre keinerlei Zweifel besteht.
Danach werden die 14 Vizepräsidenten und fünf Verwaltungsbeauftragten (Quästoren) bestimmt. Und schließlich werden die Abgeordneten, wenn alles nach Plan läuft, am 18. Juli über die Präsidentin oder den Präsidenten der Kommission für die nächsten fünf Jahre abstimmen. Dass die Kandidatin Ursula von der Leyen heißt, regelkonform vorgeschlagen von einem Gipfel der Staats- und Regierungschefs am 27. Juni, gilt als so gut wie sicher, nachdem ein erster informeller EU-Gipfel entgegen mancher Erwartungen alle Personalentscheidungen vertagt hatte. Aber ob das Parlament von der Leyen auch erneut wählen wird, ist weiterhin ungewiss. Sie hat nur einen Versuch, verfehlt sie die absolute Mehrheit von 361 Stimmen, müsste der Rat einen neuen Bewerber vorschlagen.
Fraktionen im Europaparlament müssen sich bis 3. Juli konstituieren
Vor der ersten Parlamentssitzung haben die Abgeordneten noch viel damit zu tun, sich in den Fraktionen zu sortieren und dort die Besetzung wichtiger Ämter zu regeln. Wichtiger Termin ist der 3. Juli, spätestens an diesem Tag müssen sich die Fraktionen konstituiert haben und die Zahl ihrer Mitglieder melden, um sich Ansprüche bei der Verteilung von Ausschusssitzen und -posten zu sichern.
Fraktionen im EU-Parlament
⚖️ Artikel 33 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments sieht vor, dass eine Fraktion aus mindestens 23 Abgeordneten bestehen muss.
🌍 Diese Abgeordneten müssen in mindestens sieben EU-Mitgliedsstaaten gewählt worden sein.
📝 Der Präsidentin des Europäischen Parlaments müssen der Name der Fraktion, ihre Mitglieder und Vorstandsmitglieder sowie eine Erklärung zu den Werten, politischen Zielen und der Ausrichtung beschrieben werden.
Es ist viel im Fluss: Nach dem Wahlsonntag waren zunächst knapp hundert der 720 neugewählten Mandatsträger keiner Fraktion zuzurechnen. Etwa die Hälfte von ihnen dürfte sich einer Abgeordnetengruppe anschließen oder eine neue gründen: Mindestens 23 Mandatsträger aus sieben Mitgliedstaaten sind für den Fraktionsstatus erforderlich, der Zusammenschluss verspricht mehr Einfluss und eine bessere Finanzausstattung. Das deutsche BSW von Sahra Wagenknecht mit seinen sechs Sitzen bemüht sich um eine solche Neugründung.
EVP hat Manfred Weber erneut zum Fraktionschef gewählt
Besonders schnell im Arbeitsmodus ist die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP). Sie hat sich als erste konstituiert und ihren Vorsitzenden Manfred Weber mit 95 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Der CSU-Politiker führt die Fraktion bereits seit zehn Jahren. Weber konnte rechtzeitig vor seiner Wahl Zuwachs für die ohnehin mit Abstand stärkste Fraktion verkünden: 14 Mandatsträger aus Parteien jenseits der EVP-Familie kommen nun hinzu, darunter die sieben ungarischen Abgeordneten der neuen Tisza-Partei von Peter Magyar, zwei Abgeordnete der Bauernpartei in den Niederlanden und das deutsche Parlamentsmitglied Niels Geuking von der Familien-Partei. Die EVP verfügt damit über 190 Sitze. Weber obliegt es jetzt, eine Mehrheit für die Wahl von der Leyens in der Mitte des Parlaments und eventuell auch am rechten Rand zu organisieren, der Vertrauensbeweis der Fraktion hat ihn rechtzeitig gestärkt.
Auch die Fraktion der Grünen/EFA hat bereits ihre Führung bestimmt: Vorsitzende sind die Spitzenkandidaten zur Europawahl, Terry Reintke aus Deutschland und Bas Eickhout aus den Niederlanden. Reintke war bereits in der vergangenen Wahlperiode Fraktionschefin. Die Grünen stehen unter Druck, die Fraktion ist von 71 auf 51 Abgeordneten geschrumpft.
Renew und Grüne verhandeln mit Volt
Unklar war zunächst, ob die Fraktion wenigstens vom Erfolg der Partei Volt profitiert. Der deutsche Volt-Abgeordnete Damian Boeselager gehörte in der vergangenen Wahlperiode der Grünen-Fraktion an. Jetzt kann Volt sogar fünf Abgeordnete entsenden – drei aus Deutschland, zwei aus den Niederlanden –, sondiert aber neu: Volt verhandelt sowohl mit den Grünen als auch mit der liberalen Renew-Fraktion über einen Fraktionsbeitritt.
Bei der sozialdemokratischen S&D-Fraktion ist die Konstituierung für den 25. Juni geplant. Im Vorfeld wird über einen Führungswechsel spekuliert: Die bisherige Vorsitzende Iratxe García Pérez aus Spanien, ohnehin nicht unumstritten, hat nicht mehr die stärkste Gruppe in der Fraktion hinter sich. Diesen Platz mussten die spanischen Sozialisten bei der Europawahl an die erfolgreicheren italienischen Kollegen abgeben, die wahrscheinlich den Vorsitz für sich reklamieren werden
Führungsfrage bei Sozialdemokraten und Liberalen sind noch offen
Neues Spitzenpersonal könnte es ebenso bei den stark dezimierten Liberalen geben, die für den 26. Juni die konstituierende Sitzung planen. Die bisherige Renew-Fraktionsvorsitzende Valérie Hayer kämpft mit doppeltem Handicap: Ihre Partei hat in Frankreich starke Verluste erlitten, die dominante Stellung in der Fraktion ist dahin. Zudem warb Hayer vergeblich dafür, die niederländische Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) aus der liberalen Gruppe zu werfen, weil die in Den Haag mit dem Rechtspopulisten Geert Wilders eine Regierung bilden. Jetzt könnte es stattdessen Hayer an den Kragen gehen: Favoritin für den Vorsitz ist die frühere belgische Premierministerin Sophie Wilmès.
Die Linke-Fraktion plant ihre erste Sitzung für den 25. Juni. Fraktionschef Martin Schirdewan kann im Vorfeld erfolgreiche Erweiterungsverhandlungen verkünden, zu den vier nun aufgenommen Abgeordneten gehört Sebastian Everding von der deutschen Tierschutzpartei.
Ein Zusammenschluss des rechten Lagers ist unwahrscheinlich
Noch offen ist, wie es bei den Rechtsaußen-Parteien weitergeht. Bislang teilen sie sich in die eher gemäßigte Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) und die extremere Fraktion Identität und Demokratie (ID), hinzu kommen bislang fraktionslose Abgeordnete etwa von Viktor Orbans ungarischer Fidesz-Partei. Hinter den Kulissen laufen Versuche, nun eine größere, schlagkräftigere Gruppe zu bilden: Frankreichs Rechtsaußen-Frontfrau Marine Le Pen, deren Partei Rassemblement National in der ID-Fraktion dominiert, wirbt um einen solchen Zusammenschluss bei der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die Vorsitzende der EKR-Parteienfamilie ist. Wahrscheinlich ist sie nicht, die Interessen der Beteiligten liegen weit auseinander, vor allem das Verhältnis zu Russland spaltet das rechte Lager.
Die EKR-Fraktion ist nach der Europawahl von anfangs 73 auf 83 Mitglieder gewachsen, die Neuen stammen aus nationalkonservativen, zumeist sehr kleinen Parteien aus fünf Ländern – im Zuge dessen hat sich die Hoffnung von Orban, dass auch die Fidesz-Abgeordneten hier ihre neue Heimat finden, zerschlagen. Auch ohne Fidesz ist die EKR aktuell drittstärkste Kraft im Parlament, was ihre Mitsprache-Ambitionen gestärkt hat. Sie plant die Konstituierung und die Wahl des Fraktionschefs für den 26. Juni. Die ID-Fraktion lässt sich dagegen Zeit bis zum 3. Juli. Ungewiss ist, ob und wo die 15 AfD-Abgeordneten wieder Anschluss finden, nachdem ihnen die ID-Fraktion den Stuhl vor die Tür gestellt hat.